Berliner Tagebuch: Entspanntes Geltenlassen

Ein freundlicher Erzähler lässt dem Leser Raum, mit eigenen Erinnerungen das Lesen abzurunden. Wie Detlef Kuhlbrodt in „Umsonst und Draußen“.

Der Erzähler hat eine fast Walt-Whitman-hafte Begeisterungsfähigkeit für das Alltägliche – Berlin. Bild: imago/Caro

Im Jahr 1974 nahm Simone de Beauvoir eine Reihe langer Gespräche mit Jean Paul Sartre auf, die nach seinem Tod unter dem Titel „Die Zeremonie des Abschieds“ als Buch erschienen sind. In einer dieser Unterhaltungen geht es darum, dass Sartre im Gegensatz zu Beauvoir keine Fiction mehr lesen mag, jedenfalls keine mehr, die sich als Darstellung einer Wahrheit noch ernst nimmt (oder verkennt). „Ich sehe nicht mehr recht ein, warum man Romane schreibt“, sagt Sartre. Und dass er nur noch Krimis und Sachbücher lese.

Das interessierte mich beim Wiederlesen der „Zeremonie des Abschieds“ neulich brennend, weil ich dieses Gefühl selbst gut kenne. Und weil es mich irgendwie quält. Es geht, wie ich weiß, vielen Männern jenseits der fünfzig so (den Frauen offenbar weniger), und es bereitet mir eine Art Schuldgefühl.

Irgendwas stimmt mit meiner Fiction-Rezeptionspotenz nicht mehr, grüble ich beunruhigt. Ich kriege meine willing suspension of disbelieve nicht mehr hoch.

Gut deshalb, dass es Bücher gibt wie beispielsweise die nur ganz zart anfiktionalisierten Eugen-Rapp-Romane von Hermann Lenz. Oder eines wie Detlef Kuhlbrodts „Umsonst und draußen“, ein Berliner Tagebuch aus den Jahren 2006 bis 2008, das mir jetzt beim Lesen in diesen schönen Herbsttagen manchmal vorkam wie „Seltsamer Abschied“, „Ein Fremdling“ oder „Nachrichten vom Leben und Überleben“ – eins der höchsten Komplimente, finde ich.

Freundlich zu allem, was er sieht

Die Parallelen sind vielfältig. Diese ganz leichte, auf den ersten Blick unsichtbare Fiktionalisierung des Erzählers zum Beispiel. Kuhlbrodt schreibt zwar durchgehend „ich“, hat sich aber, unter anderem durch die Durchgängigkeit einer sozusagen entschlossen freundlichen Haltung zu allem, was er sieht, als eine literarische Figur neu formatiert. Ihre Kennzeichen sind Armut, Hypochondrie, eine Zweizimmerwohnung, Drogenkonsum, Leidenschaft für Fußball und andere Spiele, Kreuzberg, Freundschaften und die provinzielle Heimatstadt Bad Segeberg.

Der Erzähler ist durch diese Neuformatierung unter seinem zeitgenössischen Kostüm so etwas wie der Held einer Novelle von Ludwig Tieck oder Joseph Freiherr von Eichendorff geworden.

Kuhlbrodts „Kuhlbrodt“ ist jetzt eine romantische Dichterfigur. Und damit auch ein Verwandter der personalen Erzählmedien Franz Kafkas, die einem ja auch immer in dieser freundlichen und verwunderten Weise bekifft vorkommen. Auch erinnert „Kuhlbrodt“ in seiner impressionistischen literarischen Methode an Peter Altenberg.

Perfektion ohne Brüche

Lauter große Vergleiche. Untermauern wir sie durch Textbelege. Zunächst zitiere ich, als Kontrastfolie, ein Dokument der Formgesinnung, bei der ich, wie der alte Sartre, irgendwie nicht mehr mitgehen will. Das literarische Leben hat uns im letzten Jahrzehnt gewöhnt an Sätze wie: „Jahre später, sie waren längst erwachsen und jeder verstrickt in sein eigenes Unglück, wusste keiner von Arthur Friedlands Söhnen mehr, wessen Idee es eigentlich gewesen war, an jenem Nachmittag zum Hypnotiseur zu gehen.“

Das sind perfekte, sehr gebaute Sätze, die den Leser (und, wie man hört, vor allem die Leserin) mit einem schönen Schwung mitnehmen in eine implizierte Erzählwelt, die immer schon vollständig ist, in der es keine Kontingenz gibt und uns Leser naturgemäß auch nicht. Auf die wir uns jetzt aber bedingungslos einlassen müssen, wenn wir auf den folgenden Hunderten von Seiten Spaß haben wollen.

Jetzt Kuhlbrodt: „Montag, 4. 6. 07. ’Sie willigt ein, indem sie jede seiner Bewegungen nachahmt.‘ (Komische Vögel mit blauen Füßen in einer Sendung über die Galapagos-Inseln).

Die Buchstaben auf dem Monitor sehen billig aus.

Warm und neblig schien die Abendsonne in die Bergmannstraße. Vereinzelt saßen Leute vor dem italienischen Café an der Markthalle und tranken friedlich leuchtendes Weizenbier. Ich dachte an früher und wie schön es doch wäre, auch an einem dieser Tische zu sitzen und mit der Hand ins schwarze Notizbuch zu schreiben.“

Verkrustungen lösen

Der romantische Erzähler „Kuhlbrodt“ folgt seiner Erinnerung an „früher“ dann zu Karstadt, wo der freundliche Schreibwarenverkäufer versucht, seinen Lamy-Füllfederhalter zu reparieren und ihm schließlich den Rat gibt, ihn über Nacht in ein Glas Wasser zu stellen, „so würden sich die Verkrustungen vielleicht lösen. Und so geschah es dann auch.“

Wir hören dann nie mehr etwas von diesem Füller oder dem Wunsch des Erzählers, „an einem dieser Tische zu sitzen und mit der Hand ins schwarze Notizbuch zu schreiben“. Und doch erfahren wir in dieser nur scheinbar „offenen“ Passage (die in Wirklichkeit mindestens so präzis gebaut ist wie der Anfangssatz von Daniel Kehlmanns neuem Roman) ganz Entscheidendes über das Leben und das Schreiben. Aber wir erfahren es so, dass wir die Freiheit behalten, unsere eigene Erinnerungen im Prozess des Lesens zu benutzen.

Eingeladen, mitzuarbeiten

Wir sind auf eine freundliche Weise eingeladen, beim Lesen mitzuarbeiten. Wir können unsere eigene Version von Abendsonne in der Bergmannstraße mitbringen. Unsere Erinnerungen an eigene eingetrocknete Schreibgeräte und unsere eigenen Moleskine-Notizbücher, von denen wir vor Jahren nur die ersten fünf Seiten mit einem dann nie verwirklichten Schreibprojekt gefüllt haben. Unsere eigene Variante der Farbe von Weizenbier, in das Sonnenlicht fällt.

All das ist beim Lesen dann plötzlich ganz präsent. So geht es einem bei Kuhlbrodt auf fast jeder Seite, und das ist ein Genuss und eine Selbstbelehrung, die einen als Leser auch bei der Stange halten, wenn gar nichts Bedeutendes und Entscheidendes passiert.

Darin besteht die Romantik und die Modernität dieser Prosa. Die Joints, Raves, Flirts, Befangenheiten, Kindheitserinnerungen, Hypochondrien, Interieurs bei Kuhlbrodt haben ihr visuelles Äquivalent in Morandis Flaschen und Cézannes Äpfeln, die auch im Betrachter erst entstehen, während die neonaturalistischen Romane, die derzeit in Mode sind, mir immer vorkommen wie Historiengemälde von David oder Siemiradzki. Die uns zwar beeindrucken und manchmal fast überwältigen, denen wir aber nicht viel Eigenes hinzufügen dürfen, wenn wir sie richtig verstehen und genießen wollen.

Die Ratte

So viel zur Methode. Liebenswert ist aber auch die Freundlichkeit der Erzählhaltung bei Kuhlbrodt, dieses entspannte und entspannende Geltenlassen. Einmal wird die erwähnte Zweizimmerwohnung von „Kuhlbrodt“ durch eine Ratteninvasion beunruhigt. Der Erzähler liegt nachts im Bett, hört den neuen Mitbewohner rascheln und auf kleinen Pfoten in der Küche umhertapsen.

Er fühlt sich im Griff einer milden Panikattacke sehr ausgesetzt und allein und kommt dann aber auf den einleuchtenden, irgendwie rührenden und für ihn sehr bezeichnenden Gedanken, dass sich die Ratte in ihrer neuen und ungewohnten Umgebung vielleicht genauso allein fühlen könnte wie er selbst. Das meine ich mit dem Hermann-Lenz-Ton dieses Tagebuchs.

„Der heißeste Tag. Wie schön es doch im Prinzenbad gewesen war!“ – „Durch den Regen fuhren wir zum Melt!. Schön sah der Regen aus, als wir zum Melt! fuhren.“ Die fast Walt-Whitman-hafte Begeisterungsfähigkeit des Erzählers für das Alltägliche, der Demokratismus seiner Empfindungsfähigkeit, gewinnt besonders gegen Ende des Buchs eine politische Komponente, wenn er das entspannte und selbstverständliche Kreuzberger Zusammenleben von Deutschen und Türken beschreibt, die gravitätische Höflichkeit und fast Zärtlichkeit, die er in türkischen Eckkneipen erfährt, wo er bedeutende Fußballspiele anschaut und sich nicht entscheiden kann, ob er für die türkische oder die deutsche Mannschaft sein soll.

Schmale Ichs, dicke Ichs

„Bei der Abschiedsparty von D., gestern Abend in der taz, waren die männlichen Kollegen überraschend entschieden für Deutschland gewesen. Ich war das Gegenteil von gleichgültig und in einer Weise für beide, die mich furchtbar nervös machte. Es sei ein Zeichen von ’Ich-Schwäche‘, wenn man gleichzeitig für beide sei, hatte N. gestern behauptet. Irgendwie müsste es doch ein positiveres Wort für ’Ich-Schwäche‘ geben. Der eine hat halt ein kleines, schmales, der andere ein großes, dickes Ich.“

In den Tagen, während ich den neuen Kuhlbrodt las, dachte ich dann noch viel an der Fiction-Müdigkeit des älteren Mannes herum. Ich entdeckte, dass der – junge – Held von Sartres „Ekel“ am Schluss des Buchs einen Roman schreiben will, um das Gefühl der Kontingenz zu überwinden, das ihn auf den zurückliegenden Seiten so eindrucksvoll gequält hat.

Detlef Kuhlbrodt: „Umsonst und draußen“. Suhrkamp, Berlin 2013, 199 Seiten, 12 Euro

Und ich entdeckte in Sartres Gesprächen mit Beauvoir Zitate wie dieses: „Ich sah Filme, in denen es keine Kontingenz gab, und wenn ich ins Freie trat, fand ich die Kontingenz. Die Notwendigkeit in den Filmen ließ mich also spüren, dass es draußen auf den Straßen keine Notwendigkeit gab.“ Und ich dachte, dass mir das Buch von Kuhlbrodt vielleicht auch deshalb so gut gefällt, weil man die Kontingenz des Lebens im fortgeschrittenen Alter – literarisch und auch sonst – offenbar leichter erträgt, als wenn man jung ist. Aber diesen Gedanken, den ich, wie viele andere, meiner gerade zurückliegenden Kuhlbrodt-Lektüre verdanke, muss ich vielleicht noch ein bisschen sorgfältiger ausarbeiten.

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