Berliner Tagebuch: Wir wollen vergessen
■ Berlin vor der Befreiung: 5. Mai 1945
Foto: J. Chaldej / Voller Ernst
Geburtstag ohne Eva. Auch der fromme Aberglaube zwingt das Wunder nicht herbei. Jetzt fließt kein Graben mehr zwischen uns, aber ich kann nicht weiter als hundert Meter sehen. Den dicken Nebel der Ungewißheit durchschneidet nicht einmal die Hoffnung.
Lengens wollten in unser Massenquartier ein Stück Stimmung bringen: mit Blümchen, Grün und einer Extrakerze. Der korrekte Bürger Lengen stiftet sogar die zwei für die Silberhochzeit des Sommers seit Monaten gehorteten Beaujolais. Wir, sie wollen vergessen. Wer Wasser tragen muß, vor einer windigen Herdstelle sitzt, sein Lager sich abendlich erst neu suchen muß – der versteht das Schicksal tiefer, wenn er es im Spiegel der anderen sieht. Es ist Erschrecken, aber es ist auch zugleich Hilfe. Hilfe für die ersten Gedanken darüber, was werden und wachsen soll.
Die Männer bis 40 Jahre sollen deportiert werden – ein Gerücht geht um, das deutlich noch nach gestern riecht. Solche kalte Gleichmacherei liegt gerade dem ausgleichenden, aber dennoch wertenden Bolschewismus nicht. Er hat den Staat der Spezialisten aufgebaut. Matthias Menzel
Aus: „Die Stadt ohne Tod“, Carl Habel Verlagsbuchhandlung, Berlin 1946. Menzel ist das Pseudonym für Karl Beer (1909-1979). Beer war Redakteur der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“.
Recherche: Jürgen Karwelat
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