Berliner Szenen: Brunnen, Eingeborene
„Si, si, claro“
„Ich trinke aus keinem Brunnen“, sage ich ein zweites Mal. Es ist sieben Uhr früh. Die junge Ärztin sieht mich irritiert an und nickt dann. Ich fahre nach Kolumbien und bin aufgefordert worden, mich gegen Gelbfieber impfen zu lassen. Ich habe lange nach dem Impfheft suchen müssen, und als ich es fand, stellte ich fest, dass die letzte Impfung 1990 war. Da hatte ich schon keine Milchzähne mehr, Helmut Kohl war Kanzler, noch immer und schon wieder, es gab Münzfernsprecher und das Wort „Milchspeiseeis“. Die Praxis hat den Fehler gemacht, den kompletten Tag mit Terminen doppelt zu belegen, und so sitze ich der Ärztin mit einer älteren Frau gegenüber, die praktischerweise das gleiche Reiseziel hat.
„Das ist wichtig, wenn Sie Kontakt zu Eingeborenen haben und im Dschungel unterwegs sind!“, sagt die Ärztin. „Nein“, sage ich.„Meine Tochter“, sagt die Frau, „ist Eingeborene.“
„Oh“, sagt die Ärztin, und weil sie einen leichten Sprachfehler hat und ihr die Vokale entgleiten, hört es sich an, als würde sie das „oh“ in einen tiefen Brunnen sprechen. Es ist ihr unangenehm und sie wechselt zu einer Infektion, die durch Insekten übertragen wird. „Wenn Sie gestochen werden, bekommen Sie auf der Haut kreisrunde Stellen, so groß wie eine Armbanduhr. Die können sich eitrig entzünden.“
Die Frau flucht auf Spanisch und sieht verängstigt aus. Ich beuge mich zu ihr herüber und sage: „Wir gehen einfach nicht in den Dschungel und wir lassen uns auch nicht stechen!“ Sie lächelt und sagt „sí, sí, claro“.
„Ich würde Ihnen wirklich empfehlen, sich auch gegen Cholera impfen zu lassen. Das kann verheerende Folgen haben. Wenn Sie zum Beispiel Wasser aus einem Brunnen trinken.“
„Wir können“, sage ich, „ganz bestimmt ausschließen, dass wir aus einem Brunnen trinken werden!“ Die Frau nickt und sagt: „Absolutamente!“ Björn Kuhligk
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