Berliner Szenen: Krank gibt’s nicht
Ganz doofe Frage
Heute kann sich Trainer Jens im Sportstudio nur mit der Hilfe von Krücken aufrecht halten. Eigentlich wirkt er nicht wie jemand, in dessen in Stockgriffe verkrampfte Hände ich meinen schmerzenden Rücken für die nächsten fünfzehn Minuten im Rahmen meines „Healthy Back Trainings“ geben möchte.
Ich frage, was passiert ist. Ach, gestern den Fuß beim Skateboardfahren verknackst. Eigentlich kein Problem, aber der wie ein Maori ganzkörpertätowierte Trainer sagt, er wolle das linke Bein nicht unnötig belasten. Ob man sich dann nicht einfach krankmelden könne, frage ich harmlos. Ganz doofe Frage. Schließlich ist der Rückentrainer gar nicht krank und muss im Übrigen heute ein paar Privattrainings machen. Fast empört fragt er: „Wie soll ich denn sonst meine Miete bezahlen?“
Ich versuche, mir die Wohnung des Rückentrainers vorzustellen, für die er mit „private trainer sessions“ die Miete verdient. Vor meinem geistigen Auge erscheint eine Einzimmerbude in einem Neubaublock außerhalb des S-Bahn-Rings, in der ein Skateboard im Flur an einer eigens dafür angebrachten Konstruktion hängt. Eine Schlafcouch leistet doppelten Dienst, beim Netflix-Gucken auf dem Laptop oder – ausgezogen – zum Schlafen. In der Ecke vielleicht eine Universalkraftmaschine. Ein Kinderzimmer sehe ich nicht.
Johnny lebt von den in der postindustriellen Gesellschaft verkorksten Körpern, Schreibtischrücken, Junk-Food-Wampen und schwabblig gewordenen Muskeln. Und wie ich gerade gelernt habe, ist er letztlich ein Tagelöhner, der sich sein Grundgehalt bei seinem Fitnessstudiojob durch Privatstunden aufbessern muss. Weil er wesentlich jünger ist als ich, kann er sich möglicherweise gar nicht daran erinnern, dass es mal eine Zeit gab, in der es kein McJob war, mit Leuten Sport zu treiben. Tilman Baumgärtel
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