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Berliner SzenenRückkehr

So ist das Leben nicht

Als ich wieder in mein Zimmer kam, war das Portemonnaie weg

Viele goldene Ringe trägt die ältere Frau, die in der S-Bahn 45 mir gegenüber sitzt. In beige und cremefarben gekleidet ließt sie die Süddeutsche Zeitung. Neben ihrem teuren Reisekoffer sieht mein Reiserucksack noch dreckiger und kaputter aus. Ein Handy klingelt, sie zieht aus ihrer Tasche ein kleines Klapptelefon und geht ran. Ja, sie sei gut angekommen, der Flug war O. K. Doch: „Ich weiß es nicht, Julian. Meine Sachen waren auf dem Bett, mein Portemonnaie auch, weil ich später packen wollte. Ich bin auf die Terrasse gegangen, ich habe den Mond angeschaut und Musik gehört. Als ich wieder in mein Zimmer kam, war das Portemonnaie weg.“ Mit ruhiger Stimme erzählt sie, dann hört sie lange zu.

„Da waren nur Sami und seine Tochter. Sie ist ein ganz besonderes Wesen, eine schöne Person. Aber vielleicht leidet sie an Kleptomanie?“ Anders könne sie sich das nicht erklären. Ich wäre bereit, meine S-Bahn Station zu verpassen um weitere Details der Geschichte mitzubekommen.

„Ich bin mit dem letzten Tropfen Benzin zum Flughafen gefahren. Jetzt muss Sami irgendwie das Auto zurückfahren.“ Ist Sami ihr Freund? Vermieter? Liegt das Haus am Meer? „Nein, ich bin in der S-Bahn. Ich habe doch keinen Cent für ein Taxi. Ich bin gleich zu Hause und habe es geschafft. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“ Wieder schweigt sie eine Weile, ab und zu nickt sie oder schüttelt den Kopf. „Nein, Julian, das Leben ist nicht so. Ich kann nicht alle Türen hinter mir abschließen jedes Mal, wenn ich Musik auf der Terrasse höre und den Mond betrachte. Das werde ich nicht tun. Nein, auf keinen Fall.“ Ich finde sie genial, ich könnte mich in diese ältere elegante Frau verlieben. Am Bundesplatz verabschiedet sie sich von Julian. „Ich muss jetzt raus, mein Schatz.“ Ich lächel sie durchs Fenster an, sie lächelt zurück. Luciana Ferrando

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