Berliner Szenen: Selbstwertgefühl
Wohnort-Angeber
Wenn man in Berlin wohnt, vergisst man manchmal: Es gibt auch Leute, die wohnen hier nicht. Die kommen zum ersten Mal her, und nichts an der Stadt ist ihnen vertraut. Ich kam mit dem Fernbus zurück nach Berlin, am ZOB stieg ich aus. Ein junger Mann, der auch im Bus gewesen war, wirkte unsicher und fragte, ob das hier Berlin sei. Ich blickte kurz auf den Funkturm und sagte dem Mann: Ja, wir sind in Berlin.
Mir gefiel es gut, jemandem auf so einfache Weise ein Gefühl der Beruhigung vermitteln zu können. Ich hätte ja auch so ein sarkastischer Typ sein können und antworten: Aber nein, das ist Paris, schauen Sie, dort steht doch der Eiffelturm. Der Mann hätte dann Humor beweisen können, aber sich vermutlich auch über meine Arroganz geärgert, zu Recht.
Es gibt aber Berlin-Bewohner, die gefallen sich in ihrer Weltstadt-Aufpeitscher-Pose. Vor Kurzem lief ich die Warschauer Straße lang und hörte, wie so ein junger Typ seiner Begleiterin erklärte, wenn Leute so langsam gingen wie diejenigen vor ihnen, seien sie neu hier und würden Berlin noch nicht kennen. Ich glaube, damit wollte er ausdrücken, dass Provinz-Schleicher den Hochfrequenztakt der Stadt aufhalten. Im Unterschied zu ihm, dem alten Metropolen-Hasen.
Ich hielt ihn für einen peinlichen Pfau, der den Wohnsitz in Berlin als Erweiterung seines Egos braucht. Der Quatsch erzählt, um jemandem zu imponieren. Doch manchmal fürchte ich, hin und wieder bin ich auch ein bisschen so. Wenn ich nicht in Berlin bin und jemand fragt mich, wo ich wohne, dann sage ich: Berlin. Und denke, cool, dass ich jetzt nicht Rinteln sagen muss oder so. Rinteln ist sehr hübsch, aber in der Welt nicht so bekannt wie Berlin. Rinteln ist weniger geeignet als Ego-Krücke. Danke, Berlin, für diese Dienstleistung.
Giuseppe Pitronaci
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