Berliner Szenen: Vor dem Nagelstudio
Terror und Menschen
„Who do you love?“ steht auf dem verwaschenen T-Shirt. Seine Trägerin hat sich schon vor Wochen auf ihre Art wohnlich eingerichtet vor der Commerzbankfiliale am Kottbusser Damm, genau auf der Grenze von Kreuzberg und Neukölln. Die Haare der leidlich jungen Frau sind raspelkurz geschnitten, sie sitzt unter den Immobilienangeboten von Planet Home, die dort im Schaufester der Bank gerahmt hängen, als hätte eine Dreizimmerwohnung in Blankenfelde nebst Doppelgarage musealen Wert. Die Scheibe nebenan hat einen großen, notdürftig verklebten Schmiss weg. Nie fragt die Frau nach Geld, sie sitzt stets auf einem Schlafsack, der als Decke dient. Aus kleinen, strengen Augen mustert sie die Vorbeischlendernden und die Hastenden.
Auf der Dammseite gegenüber künden Zeitungen im verrosteten Ständer vom Terror gegen einen Priester in Frankreich, von tödlichen Schüssen auf einen Berliner Arzt, manche Titelbilder sind schwarz eingefärbt, der Lettern sind wenige, und sie sind groß. Daneben werden Rubbellose annonciert, und eine Frauenstimme auf dem Bürgersteig fragt sich laut wundernd: „Warum essen Leute bei MacDonald’s?“ Die Frage hat sichtlich nichts mit Amok in München, sondern mit bewusster Ernährung zu tun. Da fährt ein weißer Lkw zackig schnell auf das breite Trottoir vor einem Nagelstudio, bremst abrupt. Einige Herzschläge lang verkrampft man, dann steigt ein blonder Bärtiger in einer grünen Latzhose aus, die Ladeklappe geht auf.
Das Nagelstudio bekommt eine Lieferung Sprudel. Das ist es also, das öffentliche Leben, denkt man – Gemeinwesen und Terror, Nagelstudio und Menschen, überall Menschen. Wer will da was kontrollieren? An der Ampel weht ein Zettel: „Der Mensch: Fortsetzung der Scheiße“ steht darauf, „jetzt auch online“. Harriet Wolff
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