Berliner Szenen: Sisyphos in Kreuzberg
Tschador-Fußball
Jeden Morgen, wenn ich Fup mit dem Fahrrad in die Schule begleite und wir an der Ampel Gitschiner Straße Ecke Lindenstraße am Europäischen Patentamt stehen, sehe ich einen verwahrlosten Bettler, der mit einer Krücke, einem lahmen Bein und einem Kaffeebecher an den wartenden Autos entlangschlurft.
Er schafft ungefähr fünf Autos während einer Rotphase. Haben die Autos Grün, geht er zurück zum Ausgangspunkt, um bei der nächsten Rotphase seinen vergeblichen Versuch erneut zu starten. Irgendwie kommt er mir vor wie Sisyphos, aber ab und zu scheint ihm jemand etwas zu geben, denn er ist immer da und geht seiner eintönigen und anstrengenden Tätigkeit nach.
Ich hingegen gehe ins Brandi und trinke wie jeden Tag Kaffee. „Tschador kann auch Pop sein“, lese ich in der taz. Interessant, denke ich. Danach lese ich im Tagesspiegel „Fußball ist Pop“. Auch interessant, denke ich. Wenn beides Pop ist, was hat Tschador dann mit Fußball gemein? Ist Pop verschleierter Fußball? Ist Diedrich Diederichsens Buch über Pop deshalb so dick? Und warum ist Pop so positiv konnotiert, wenn er nun irgendwie alles Mögliche bedeutet. Jetzt sogar Tschador.
Diese müßigen Gedanken werden unterbrochen von einem alten Mann mit dunklen Bartstoppeln, der mit dem Tempo einer Schildkröte vorbeischleicht. Er murmelt unverständlich; aber der klagende Ton, der mir aus dem Fernsehen von kopftuchtragenden Frauen so bekannt vorkommt, und der Pappbecher in seiner Hand weisen darauf hin, dass er bettelt.
Niemand gibt ihm was. Eine Frau am Nebentisch faucht ihn genervt an: „Mann, ich seh dich jeden Tag drei Mal.“ So oft sitzt sie also täglich in einem Café.
Der als „Mann“ angefauchte Mann geht ungerührt weiter. Jeden Tag. Immer die gleiche Strecke um den Häuserblock herum. Klaus Bittermann
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