Berliner Szenen: Roll-Diskurse
Pöbeln vermeiden
Das mit den Rollkoffern nervt. Ich meine nicht die Rollkoffer selbst, sondern das, was über sie geschrieben wird. In Berlin sind Rollkoffer zur Chiffre, zur Metapher geworden. Rollkoffer haben sich verselbstständigt. Man denkt hier bei ihnen jetzt immer gleich diesen ganzen Touristen-Gentrifizierungs-Mietkosten-Ferienwohnungs-Diskurs mit. Dabei sind Rollkoffer eine prima Erfindung, vor allem für Leute mit Rückenschmerzen.
Ich hab auch eine Rolltasche. Neulich bin ich damit zum ZOB, spätabends, um den Nachtfernbus nach Bochum zu nehmen, wo ich früher gewohnt habe. Als ich am Kaiserdamm in Charlottenburg von der U-Bahn zum ZOB ging, hab ich die Rolltasche nicht gerollt, sondern getragen. Trotz Rückenschmerzen. Ich hatte Angst, dass die Leute sonst aus den Fenstern gucken, die Fäuste recken und „Scheiß Touristen!“ brüllen oder so.
Am nächsten Morgen kam ich in Bochum an und bin munter durch ein Wohngebiet spaziert, mit rollender Tasche. Ich dachte, in Bochum ist die Rolltasche noch kein Sinnbild, Emblem, Symbol für irgend so’n Diskurs. Wenn mich hier einer sieht und hört, der freut sich vielleicht, weil er denkt, wie schön, ein Tourist, in Bochum.
Nach ein paar Tagen war ich wieder in Berlin, ich ging nach Hause, in Neukölln, und versuchte, selbstbewusst zu sein mit rollender Tasche. Ich habe mir vorher Gedanken gemacht, was ich antworten könnte, wenn ich mit Rolltasche durch Berlin ziehe und jemand „Hau ab, blöder Touri!“ pöbeln würde. Ich könnte dann irgendwas Ironisches sagen, stellte ich mir vor, so was wie: „Ja, mein Berlin-Urlaub ist nach einem Vierteljahrhundert schon wieder vorbei, ich werde die toleranten Berliner vermissen.“
Aber bislang hat mich noch niemand angepöbelt. Was ja auch wieder gut ist.
Giuseppe Pitronaci
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