Berliner Szenen: In der AGB
Rechter Partisan
„Ich bin rechts“ sagt ein alter Mann im Lesesaal der Amerika-Gedenkbibliothek zu mir. Ich brauche einen Moment, um zu reagieren. „Wie bitte?“ Er zeigt auf meine taz, dann auf seinen Stapel Focus und lacht sich kaputt. Soll das ein Witz sein? Ich habe keine Zeit, den alten Mann zu fragen: Er fängt an zu reden und hört nicht mehr auf.
In Italien, wo er geboren wurde, sagten die Menschen er sei „ein Arschloch“ und „schlimmer als Mussolini“, erzählt er. Doch er kämpfte mit den Partisanen (oder sagt er „gegen“?) und entschied sich, nach Deutschland auszuwandern. Er hatte keinen Job, und weil er „so jung und hübsch wie ein Adonis war“, fing er an, „Damen zu begleiten“. Er flüstert. Er sieht in meinen Augen, dass ich wieder nicht verstehe. Er kommt näher und sagt leiser: „für Geld“, und reibt den Daumen an den anderen Fingern. Erfolg hatte er. Und Spaß. „Es gab Damen, die wollten mich heiraten. Aber ich war erst 19 und wollte frei sein.“
Er lernte seine Frau kennen und war verliebt. „Sie kam aus Auschwitz, wissen Sie?“ Nein, das weiß ich nicht und auch nicht, welche Richtung sein Monolog nehmen wird. Ich bekomme etwas Angst. Ich gucke mich schnell um: Niemand hört mit, niemand hat Lust darauf, die Lektüre zu unterbrechen, um mich zu retten. „Ich meine, sie ist dort geboren“, sagt er, als nehme er mich plötzlich wahr. „Das ist schon schlimm genug.“
Dann geht es um russische Panzer in Berlin, das Hallesche Tor, und wie er „alle reingelegt“ habe. Ich schalte aus und sehe nur, wie sich seine Lippen weiter bewegen und er mit dem linken Arm gestikuliert – im rechten trägt er noch seinen Stapel Zeitschriften. „Ich bin gleich fertig“, sagt er zwei, drei Mal. Als ich mich frage, warum ich mich nicht wehre, warum mich alle Geschichten, auch die wirrsten – interessieren, hört er auf. Er setzt sich hin und fängt an zu lesen. Luciana Ferrando
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