Berliner Szenen: In der Bibliothek
Siegfried schläft
Wie angekündigt, regnete es an diesem Frühlingssamstag. Weil die Bäume und Sträucher wie verrückt am Blühen waren, fand ich den Nieselregen nicht schlimm und nutzte das Wetter, um am frühen Nachmittag in die Pablo-Neruda-Bibliothek zu gehen, die nur wenige Minuten von meiner Wohnung entfernt ist. So vereinzelt wie die Tropfen vom Himmel fielen, so vereinzelt betraten und verließen vorwiegend junge Eltern mit ihrem Nachwuchs die Bibliothek.
In der zweiten Etage herrschte eine fast andächtige Stille, sodass ich darauf achtete, wenige Geräusche beim Laufen zu machen. Ich suchte kein bestimmtes Buch und lief langsam die Regalreihen entlang. Ab und an nahm ich ein Werk in die Hand, blätterte darin und stellte es zurück. Plötzlich vernahm ich ein seltsames Geräusch. Nach einigen Sekunden sah ich, dass es aus der Nase eines Mannes von etwa Mitte 50 kam, der tief und fest schlief. Lang hingestreckt lag er mit Turnschuhen, Wollsocken, Cargohose und einem Sweatshirt mit dem Aufdruck „West Virginia“ auf einem Hocker, die Beine waren auf einem zweiten Hocker platziert. Sein Mund stand offen, die Lesebrille hatte er in die Stirn geschoben, zwischen seinen Händen lag ein großes blaues Buch, eine Fantasy-Version der Nibelungensage. Ich stand etwa einen Meter entfernt und fühlte mich wie ein Voyeur und konnte doch nicht aufhören, dem Mann mit dem grauen Vollbart beim Schlafen zuzuschauen. Träumte er von Helden? War er gar selbst einer? Mit einem Auge hielt ich Ausschau nach Büchern zum Ausleihen und nahm schließlich eins von Stefan Heym mit und eins von John Irving.
Dann warf ich einen letzten Blick auf den schlafenden Mann. Regentropfen fielen gegen das Fenster neben ihm. Es war ein sehr friedliches Bild. Geräuschlos, wie ich gekommen war, verließ ich die Bibliothek. Barbara Bollwahn
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