Berliner Szenen: Beim Frisör
Nackenhaare
Bin ich beim Frisör, muss ich unweigerlich an das eine Gedicht von J. denken. Nachdem die Frisörin und ich die Themen Kinder und Wochenende abgehakt haben, schweigen wir. Es ist ein angenehmes Schweigen – ich gehe seit Jahren hierher –, und mein Blick gleitet irgendwann auf den Boden. Ich sehe die bereits abgeschnittenen Haare: „ein stiller mob mit einem alten wissen“.
„Einen Zentimeter, wie immer?“, fragt die andere Frisörin. Vor ihr sitzt eine alte Frau mit frisch gewaschenen Haaren und einem verhärmten Gesicht, in dem sich das komplette Elend des Erdballs zu spiegeln scheint.
„Ja, bitte“, sagt die Frau, „einen Zentimeter!“ Sie schmatzt ein wenig, während sie das Z von Zentimeter ausspricht.
„Guten Tag, junger Mann!“
Junger Mann. Hier ist nur ein Mann, und das bin ich, nicht mehr jung, aber Mann. „Guten Tag!“, sage ich und denke, es wäre eine Gemeinheit, nun „alte Frau“ anzufügen, obwohl es den Tatsachen entspräche.
Die andere Frisörin nickt, greift nach einer großen Schere, lässt sie einige Male dicht über dem Kopf der Alten auf- und zugehen und grinst dann. „Und wenn ich es dir länger abschneide, verlässt dich dann Hans?“
Wir fangen alle an zu lachen, ich beuge dabei meinen Kopf leicht nach rechts, obgleich die Frisörin gerade dabei ist, mit scharfer Klinge die Nackenhaare zu bearbeiten. Es brennt kurz und blutet dann. Die Frisörin entschuldigt sich ausführlich, tupft mit einem Taschentuch die kleine Wunde ab, entschuldigt sich wieder. Es ist nicht schlimm.
„Der verlässt mich nicht. In unserem Alter macht man das nicht mehr!“ Wir lachen wieder. Ich halte meinen Kopf still.
Die Wunde brennt. Ich fühle mit einem Finger danach. „Na, junger Mann“, sagt die Alte, „jetzt können Sie sagen, dass Sie im Krieg waren.“ Björn Kuhligk
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