Berliner Szenen: Vom Winde verweht
Conquista
Es war ein windiger Tag, als ich die Stralauer Allee in Friedrichshain entlanglief. Der Wind wehte mir zwei handbeschriebene Blätter Papier vor die Füße. Die Neugier ließ mich bücken und sie aufheben. Es war ein Aufsatz eines Schülers in spanischer Sprache über die Entdeckung Amerikas und die Conquista.
Ich begann zu lesen und übersah großzügig all die Rechtschreib- und Konjugationsfehler. Der erste Teil des Aufsatzes bezog sich auf einen Zeitungsartikel mit dem Titel „Die Entdeckung Amerikas war ein Massaker“ und beschrieb, wie die Spanier zu Felde zogen. „Zuerst wollten die Spanier wissen, wie die Indianer sind“, schrieb der Schüler. „Als die Eroberer sahen, dass die Indianer kein großes Problem sind, begannen sie das Massaker und brachten alle um.“
Im zweiten Teil des Aufsatzes sollte der Schüler seine persönliche Meinung zur Conquista aufschreiben. Er meinte, dass die Spanier nicht nach Amerika kamen, um alle umzubringen, sondern um den Indianern die katholische Religion zu bringen. Dann erzählte er von dem Gold und den Ländereien, die die Spanier wollten, um ihr Imperium zu vergrößern. „Das waren positive Aspekte für die Spanier“, lautete seine Zusammenfassung.
„Aus einem Grund“, schrieb der Schüler am Ende seines Aufsatzes, sei er mit der Conquista nicht einverstanden. Ich war gespannt wie ein Flitzebogen. „Heute weiß niemand, wie sich die Indianer entwickelt hätten, wenn die Spanier nicht gekommen wären.“ Hm. Meine Verwirrung wurde beim letzten Satz nicht kleiner. „Im Allgemeinen“, tat der Schüler seine Meinung kund, „bin ich mit der Eroberung einverstanden.“ Irritiert entsorgte ich die Blätter in einem Papierkorb. Der Aufsatz stammte vom März 2015, und ich hoffte, dass der Schüler in der Zwischenzeit dazugelernt hatte. Barbara Bollwahn
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