Berliner Szenen: Was bleibt
Der Gruß des Boten
Alle Jahre wieder hatte ich Weihnachts- und Neujahrsgrüße von Menschen bekommen, die mir nicht nahestehen, mit denen ich lediglich auf die eine oder andere Weise zu tun habe. Als Patientin, als Kundin, als Leserin. Die Krankenkasse schickte eine Karte zum Fest, die Autovermietung, die Schneiderei, die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Auf braunem Grund prangte ein Geweih und darunter eine Art Kopf in Form eines schwarz-rot-goldenen Kreises. Auf der Innenseite fand ich die handschriftlichen Unterschriften von sage und schreibe 39 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Stiftung, auch vom Vorstand, den Rainer Eppelmann anführt, der Pfarrer aus dem Osten, der mal Minister für Abrüstung und Verteidigung war. Fromme Wünsche von letzten Endes wildfremden Menschen.
Kaum waren die Festtage vorbei, warf ich all diese Grüße weg. Bis auf diese eine Weihnachtskarte, die ohne Umschlag und Briefmarke in meinem Briefkasten gelegen hatte. Auf den ersten Blick hatte sie sich nicht von der Massenware unterschieden. Sieben auf Kunstschnee drapierte goldene Walnüsse mit roten Schleifchen. Fast hätte ich sie ungelesen in dem Papierkorb unter dem Briefkasten entsorgt.
Doch dann hatte ich die Karte geöffnet und war überrascht, im Inneren eine ungelenke Handschrift zu finden und einige kleine sprachliche Unkorrektheiten. „Frohe Weihnachten und alles Gute im neuen Jahr. Vorn Ihre Zeitungsbote.“ Es war das erste Mal, dass ich Post von „meinem“ Zeitungsboten bekam, und ich war gerührt. Unterschrieben war der Weihnachtsgruß mit dem exotisch klingenden Namen Osemwengie und auch seine Anschrift samt Hausnummer in Neukölln war notiert. Die Wünsche von Herrn Osemwengie stehen auch noch am Anfang des neuen Jahres im Fenster meiner Küche.
BARBARA BOLLWAHN
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