Berliner Szenen: Im Uhrzeigersinn laufen
Das Inventar
Sie begegnen mir beim Laufen in der Hasenheide. Runde für Runde, Tag für Tag, Jahr für Jahr kommen sie mir entgegen: die anderen Läuferinnen und Läufer. Ein paar von ihnen sehe ich schon seit einer gefühlten Ewigkeit, auch wenn sich mit der Zeit die Stammbelegschaft umwälzt. Wegzüge, chronische Laufverletzungen, Sterbefälle. Meist kenne ich ihr Schicksal nicht und werde es genauso wenig kennenlernen wie sie meines.
Sie sind Kreuzberger und Neuköllner. Die meisten Gesichter sind mir fremd, wiewohl vom Laufen so vertraut, andere kenne ich sogar persönlich. Die Stammtruppe ohne Anspruch auf Vollständigkeit: der Mann mit der Sportsonnenbrille, der mich an meinen ehemaligen Orthopäden erinnert; der Braunschweiger Badmintonspieler; das schnelle, unfreundliche Mädchen mit der Mütze; die langsame, freundliche Frau ohne Mütze; Maria; Klaus Cäsar Zehrer; der Mann, den ich fälschlicherweise für einen taz-Redakteur hielt; mein früherer Kräuterhändler; das türkischstämmige, ältere Nordic-Walking-Paar, bei dem nun leider schon länger der Mann fehlt. Ich mache mir Sorgen.
Sie alle kommen mir entgegen, weil sie immer im Uhrzeigersinn laufen und ich nicht. Ich bin special. Aber vielleicht laufen ja genauso viele gegen den Uhrzeigersinn und ich nehme sie bloß nicht wahr. Denn die, die mich schnell überholen, strafe ich mit Verachtung. Auf Angeber achte ich nicht. Und diejenigen, die ich überhole, sehe ich nur von hinten und dann bestenfalls noch kurz von der Seite. Die Langsameren aber, die stets hinter mir herlaufen, in immer größer werdenden Abständen, bekomme ich sowieso nicht zu Gesicht. Unsere Wege werden sich niemals kreuzen. Gibt es sie überhaupt?
Darüber sollte man mal gründlich nachdenken. Man könnte es aber auch bleiben lassen. Uli Hannemann
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