Berliner Szenen: In der Philharmonie
Sünde, Mord
Was bei der Fernsehaufzeichnung von Eröffnung und Preisverleihung der Berlinale gern die Menschen des einfachen Volks tun, nämlich Sitzplätze von geladenen Gästen im Saal einnehmen, die nicht erschienen sind, übernehmen an diesem Abend die Funktionäre: Der von der politischen Bundesbildung landet dabei erst in der falschen Reihe, die geschasste Kulturhoheit, wie immer mit Fliege angetan, sitzt bereits vor dem großen Andrang auf seinem Platz, dauervertragsverlängerte Berliner Intendanten und Herren des Lobbyistenadels mit Ehefrauen von Hauptberuf sind zahlreich zugegen.
Ich male mir die wohl beträchtliche Länge der Gästeliste aus und überlege, wie viele zahlungswillige MusikliebhaberInnen sich dieses Konzert in der Philharmonie gerne noch angehört hätten, statt vor ausverkauften Türen zu stehen.
Ingo Metzmacher und das Deutsche Symphonie-Orchester machen solche Petitessen am Donnerstagabend aber schnell vergessen.
Das Streichergeheul von Iannis Xenakis in dessen Komposition „Shaar“ stimmt mich wohlgemut. Die Kindertotenlieder von Gustav Mahler hingegen lassen mich kalt. Nach einer eingehenden Bewegungsanalyse des Dirigenten diagnostiziere ich einen Beckenschiefstand, der aber freilich noch zu verifizieren wäre.
Die Abrechnung mit meinen weltlichen Anwandlungen trifft mich prompt nach der Konzertpause. „Mord, Raub, Blut, Wunden!“, schallt es mir in Arnold Schönbergs Oratorium „Jakobsleiter“ entgegen, und ich ahne die Strafe dafür, dass ich mir meinen Lebenswandel seit Jahren schon von keiner Kirchenkanzel herunter mehr vorhalten lasse.
Aber Erzengel Gabriel ist gütig und singt: „Deine Sünden sind Strafen, die reinigen.“ Wenn die Musik sich erbarmt, ist Schönberg Gott und für heute alles noch einmal gut gegangen. Franziska Buhre
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