Berliner Szenen: Kinder allein unterwegs
Stress beim Abholen
Am Schreibtisch im Büro sitzend schaue ich auf die Uhr. Bald muss ich los, meinen Sohn vom Bahnhof Friedrichstraße abholen, weil wir einen Arzttermin in Kreuzberg haben. Der Neunjährige fährt eine Dreiviertelstunde allein mit der S-Bahn; meine Frau hat ihn am östlichen Stadtrand in den Zug gesetzt. Kommt an wie vereinbart, letzter Wagen, letzte Tür?
Wir machen das öfter, aber beim letzten Mal gab es einen Zwischenfall: Als der Zug am proppenvollen Bahnhof ankommt, steigt kein Kind aus der verabredeten Tür, auch nicht aus den anderen Türen. Was nun? Erst mal Ruhe bewahren – und meine Frau anrufen, denke ich. Aber das geht nicht, ihr Mobiltelefon hat ja das Kind. In diesem Moment klingelt mein Handy: „Papa, wo bist du? Ich bin da“, sagt er. „Ich bin auch da, irgendetwas stimmt nicht“, antworte ich und denke, dass er die letzte mit der ersten Tür verwechselt hat. „Siehst du die Brücke und die Spree?“, frage ich. „Nee, hier ist kein Fluss, aber ich seh den Fernsehturm.“ „Bist du am Alex?“ – „Ja.“ – „In Ordnung. Du bist zu früh ausgestiegen und fährst mit der nächsten Bahn zwei Stationen weiter.“ Wenig später umarmen wir uns.
Jede Zeit hat ihre Moden, aber man muss es auch nicht übertreiben mit dem Behüten der Kinder. Zu DDR-Zeiten, als ich so alt war wie er heute, war es so: Von Montag bis Samstag bin ich jeden Morgen allein mit Fahrrad und S-Bahn zur Schule gefahren, um zu einer Schule mit erweitertem Sprachunterricht in der Kreisstadt Strausberg zu gelangen. Diese Fahrten – in der Bahn traf ich Klassenkameraden – waren toll: Morgens büffelten wir russische Vokabeln, und am Nachmittag lasen wir Jules Verne. Oder bewarfen uns mit Papierkügelchen oder turnten an den Geländern. Auch so manche Mutprobe war dabei, weil sich die S-Bahn-Türen während der Fahrt leicht öffnen ließen. Richard Rother
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