piwik no script img

Berliner SzenenKlavier-Helmut spielt

Kolumne
von Detlef Kuhlbrodt

Berlin ist wild und gefährlich. Und unsere AutorInnen sind immer mittendrin. Ihre schrecklichsten, schönsten und absurdesten Momente in der Großstadt erzählen sie hier.

E s war ein Sommerabend, der sich in den Herbst verirrt hatte. Wir waren in einer temporären Kneipe am Kottbusser Damm gewesen, wo Dag ein paar Bilder ausgestellt hatte. Vor dem kleinen Pizza-Imbiss ein paar Meter weiter saß ein drahtiger dünner Mann, mit Hut und altem Jackett, vor einem Klavier. Er war vielleicht 70 und wirkte mit der Zigarette im Mundwinkel wie die Figur eines philosophisch gebildeten Clochards aus einem alten Schwarzweiß-Film. Freundinnen tanzten um ihn herum, krakeelten, waren ganz begeistert und sangen irgendwas. Er verweigerte sich den Wünschen nach moderner Tanzmusik und spielte eher Klassisches, rauchte beim Spielen und trank in Pausen Wein. Das war Klavier-Helmut.

Von Weitem hatte ich ihn schon manchmal gesehen, wenn er sein Klavier, das auf Rollen stand, im Viertel um die Bergmannstraße durch die Gegend zog. Ich setzte mich an einen Tisch und aß eine Pizza. Die Freundin einer Freundin saß mir gegenüber und neben ihr ein kleiner, kräftiger Mann, der jeden Mann anpöbelte, der in der Nähe war. Mich faszinierte sein archaisches Verhalten. Alles, was der Aggressive sagte, wirkte irgendwie ausgedacht. Vielleicht war er Schriftsteller. Ein polnischer Freund kam vorbei und deutete an, der Aggressive werde den Kürzeren ziehen, wenn sie sich schlagen würden. Der stellte das infrage. Es gab ein Wortgeplänkel. Obwohl unsere Bekannte erklärte, sich von dem Aggressiven nicht belästigt zu fühlen, entfernten wir uns wieder.

Ich sprach mit dem türkischen Imbissbetreiber. Er war ein Fan von Klavier-Helmut. Wenn er viel Geld hätte, würde er hier ein Lokal eröffnen, in dem Helmut jeden Tag spielen könne. Er plädierte für eine Helmut-Straße, einen Helmut-Platz, ein Denkmal. Auf dass sich auch kommende Generationen seiner erinnern können. Vielleicht gefiel ihm auch der altmodische Name so gut.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!