Berliner Szenen: Frau K. ist tot
Berlin ist wild und gefährlich. Und unsere AutorInnen sind immer mittendrin. Ihre schrecklichsten, schönsten und absurdesten Momente in der Großstadt erzählen sie hier.
E s war eine der ersten richtig kalten Nächte, und die Heizung funktionierte nicht so, wie sie sollte. Es war ein einziges Frösteln. Ich konnte niemanden anrufen, da die Hausverwaltung wieder einmal gewechselt hatte und keine neue Hausmeister-Notdienst-Rund-um-die-Uhr-Service-Nummer mitgeteilt hatte. Ich durchsuchte mein Handy unter „H“, doch es fand sich kein Eintrag zu einem Hausmeister.
Als ich die nächsten Buchstaben durchging, stieß ich auf Frau K. Jahrelang habe ich bei der alten Frau Päckchen abgeholt, die die Post bei ihr abgab. Vor einigen Monaten ist sie gestorben. Lange Zeit hatte ich täglich eine Pflegerin kommen und gehen sehen. Ihr Sohn wohnte zwar mit ihr zusammen, aber eine wirkliche Hilfe war er nicht. Als ich mich einmal um Frau K. kümmerte, weil er im Krankenhaus war, erzählte sie mir, dass er nur zum Einkaufen gut sei. Ich habe nie mehr als einen Satz mit ihm gewechselt, weil er immer so menschenscheu wirkte. Seine Mutter sagte, dass er selbst vor einer Straßenbahn davonlaufe, wenn sie ihm zu nahe käme. Nach dem Tod von Frau K. dachte ich, ich müsste kondolieren. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, dass der Sohn durch ihren Tod gesprächiger geworden wäre, und ließ es sein.
Neulich stand der Sohn vor meiner Tür. Die Post hatte ein Päckchen für ihn bei mir abgegeben. Das graue Haar säuberlich nach hinten gekämmt, die Lederjacke korrekt geschultert, sah er wie ein unbeholfener Schuljunge aus. Ich gab ihm das Päckchen und wollte ihn verabschieden, da begann er plötzlich zu reden. Das erste Mal nach zehn Jahren! „Waren Sie enttäuscht, weil ich Ihnen nichts gesagt habe, als meine Mutter gestorben ist?“ Ich fragte mich, ob ich ehrlich sein sollte. „Na ja, nicht wirklich“, entgegnete ich schließlich. Am Tag nachdem ich Frau K. aus meinem Handy gelöscht hatte, funktionierte die Heizung wieder.
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