Berliner Strafvollzug: Ein Ausbruch und die Folgen
Die Gefangenen in der JVA Tegel frohlocken, die Bediensteten sind beschämt, und der Justizsenator bleibt unter Beschuss. Zu Recht?
Fast alles war wie in dem Film „Flucht von Alcatraz“: vier Gefangene, einer wird von Clint Eastwood gespielt, fliehen dort auf spektakuläre Art aus dem US-Hochsicherheitsgefängnis auf einer Insel im Meer. In den Betten ihrer Zellen lassen sie selbst gebaute Attrappen zurück, die Flucht wird erst am nächsten Morgen bemerkt. Neun Stunden Vorsprung haben sie da.
Die JVA-Tegel ist zwar nur von einem Häusermeer umgeben, aber dem 24-jährigen Hamed M. gelang am Mittwochabend die Flucht mit dem gleichen Trick. Als die Attrappe am Donnerstag bei der Morgenkontrolle im Bett entdeckt wird, ist M. seinen Verfolgern zehn Stunden voraus. Versteckt unter einem Lkw, der jeden zweiten Mittwoch die Einkäufe der Insassen ausliefert, hat M. das Gelände verlassen. Beim nachmittäglichen Hofgang wurde er zuletzt gesehen. Vermutlich hing der 1,63 große Mann Stunden unter dem Lkw, bevor der gegen 20 Uhr den Ausgang passierte.
In Tegel und nicht nur dort ist die Flucht seither Topthema. „Clever – der Mann hat Mut und Eier“, beschreibt ein Knacki die Stimmung unter Gefangenen. „Das ist hier ja schließlich ein Hochsicherheitsgefängnis.“ Soll heißen, in Tegel gelten höhere Sicherheitsstandards als in Gefängnissen wie der JVA Plötzensee. Dort waren vier Gefangene kurz vor Weihnachten entkommen, in dem sie am helllichten Tag einen Lüftungsschacht in der Mauer mit Werkzeugen aufgehebelt hatten. Inzwischen sind alle wieder gefasst.
Nicht amüsiert zeigt sich dagegen die Beamtenschaft. „Dass sich die Insassen ins Fäustchen lachen, nehmen wir sportlich“, sagt Thomas Goiny, Landesvorsitzender des Bundes der Strafvollzugsbediensteten. Aber das mit der ausgestopften Puppe sei der Super-GAU. „Das ist doch der Klassiker, das trifft uns in unserer Berufsehre.“ Allerdings sei die Schuld nicht bei den Kollegen zu suchen, so Goiny. Aus Krankheitsgründen seien in der besagten Spätschicht nur 9 statt 13 hauptamtliche Bedienstete in der Teilanstalt II tätig gewesen. Rund 300 Häftlinge sitzen dort ein.
Entweichungen und Ausbrüche Laut Justizministerium kehrten in Berlin im Jahr 2016 insgesamt 52 Personen nicht in die Haftanstalten des offenen Vollzugs zurück; im vergangenen Jahr waren es 42 Häftlinge. Auch in den Jahren davor gab es immer wieder Entweichungen aus dem offenen Vollzug, mal 24 wie im Jahr 2015, mal 105 wie 2007, wie der Tagesspiegel berichtete – und außerdem pro Jahr ein oder zwei Ausbrüche aus dem geschlossenen Vollzug.
Rücktrittsforderungen Nach insgesamt fünf Entweichungen und fünf Ausbrüchen in den vergangenen sechs Wochen wurde Kritik an Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) laut, es gibt Rücktrittsforderungen, unter anderem von der CDU. Tatsächlich ist bislang noch nie ein Innensenator wegen Ausbrüchen oder Entweichungen zurückgetreten. Auch der damalige Innensenator Thomas Heilmann (CDU) nicht, als im Jahr 2014 aus der JVA Moabit zwei Gefangene ausgebrochen sind. (taz)
Mit mehr Personal, demzufolge weniger Stress und moderner Technik wäre die Flucht nicht passiert, ist Goiny überzeugt. Wie früher am DDR-Checkpoint werde der Unterboden der Fahrzeuge mit einem Spiegel auf zwei Räder und einer Lampe abgesucht. „Wir brauchen Wärmebildscanner und Fototechnik“, so Goiny.
Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) lässt derzeit prüfen, welche Konsequenzen aus dem Ausbruch aus Tegel zu ziehen sind. Für die JVA Plötzensee hat er bereits eine Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des Amtsgerichtspräsidenten eingesetzt. Sie wird am 15. März einen Bericht vorlegen. Untersucht wird die gesamte Sicherheitsagentur, also auch die Arbeitsabläufe.
Behrendt steht unter Druck. Die Berichterstattung der letzten Wochen zeigt, dass die Presse wenig bis gar nicht differenziert, wenn ein Gefangener das Weite sucht. Fluchten aus dem geschlossenen Vollzug werden mit sogenannten Entweichungen in einen Topf geworfen. Ein Beispiel: Die Berliner Zeitung schrieb am Freitag, M.s Flucht sei „die zehnte Flucht in sechs Wochen“ und „Sinnbild für die Überlastung der Gefängnisse“. Tatsächlich sind seit Dezember fünf Häftlinge nicht aus dem Freigang in den offenen Vollzug zurückgekehrt. Fünf weitere sind wirklich ausgebrochen, indem sie Sicherheitsanlagen mit List oder Gewalt überwanden. Im Vergleich zu den Entweichungen sind richtige Ausbrüche in Berlin äußerst selten (siehe Kasten).
„Gebt doch gleich den Knackis die Schlüssel“ – Schlagzeilen wie die am Freitag in der B.Z. sind für die rot-rot-grüne Landesregierung fatal. „Wenn die Leute den Eindruck haben, die Gefängnisse sind nicht sicher, können wir noch so gute Arbeit machen“, warnt man in Koalitionskreisen. Auch wenn Behrendt dafür persönlich keine Verantwortung habe: Dass Kontrollen dermaßen versagten – das dürfe nicht passieren. Der Justizsenator müsse deutliche Schwerpunkte setzen.
Der rechtspolitische Sprecher der Linken, Sebastian Schlüsselburg, verteidigt den Justizsenator. Auf der Senatsklausur im Januar habe Behrendt 12 Millionen Euro für sofortige Sicherheitsmaßnahmen im Strafvollzug rausgeholt. Die Ausbildungszahlen für das Justizpersonal seien so hochgefahren worden, dass die Lücke von 200 Stellen in den Knästen Ende 2019 geschlossen werden könne. Der aktuelle Ausbruch sei aber nicht allein auf die Personalausstattung zurückzuführen, sondern auf menschliches Versagen, so Schlüsselburg. Am 21. Februar werde man im Rechtsausschuss sowohl über neue Technik für Pforten reden als auch darüber, wie eingeschliffene Kontrollabläufe verändert werden könnten.
Hamed M. ist nach wie vor verschwunden. Ob ihm auch hier die Flucht von Alcatraz Pate steht? Der Film beruht auf einer wahren Begebenheit. 1962 flohen drei Männer von der Gefängnisinsel. Ob sie ertrunken sind oder es geschafft haben, blieb offen. Nichts wurde von ihnen je gefunden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
„Männer“-Aussage von Angela Merkel
Endlich eine Erklärung für das Scheitern der Ampel
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“