Berliner Rentner besetzen Villa: Senioren-Occupy
Rebellen aus der Stillen Straße: Weil ihr Freizeitclub geschlossen wurde, halten zwanzig Berliner Rentner ihre Villa besetzt. Der grüne Stadtrat ist vom Widerstand überrascht.
BERLIN taz | Da, wo Margret Pollack bis vor einer Woche noch Bridge spielte, oben im Dachzimmer der alten Villa, steht jetzt ihr Zahnputzbecher. In der Ecke eine Klappliege mit Pollacks Schlafsack, eine kleine Tasche. Das war’s an Besetzerproviant. Der Bezirk hätte das wissen können, sagt die frühere OP-Schwester.
Seit vier Jahren besucht Pollack die Villa, den Seniorenfreizeittreff „Stille Straße“, ist dort Mitglied der Gymnastikgruppe. Die 67-Jährige lächelt keck, umklammert ein Glas Apfelsaft. „Wir haben ja lange genug gesagt, dass wir besetzen, wenn man uns schließt.“
Die Pankower Bezirksspitze hörte nicht auf Pollack und ihre Rentnerfreunde, und so beschlossen SPD, Grüne und Piraten im März die Schließung der „Stillen Straße“. Man habe kein Geld, das Haus soll verkauft werden. Jetzt ist Pollack Besetzerin.
Für Berlin, reich an Besetzerhistorie, ist das eine Premiere. Rund zwanzig Rentner, fast alles Damen zwischen 67 und 82 Jahren, die ein Haus, ihren Seniorentreff, besetzen – das hat es auch in der Hauptstadt noch nicht gegeben. Ganz überraschend kommt es dennoch nicht, denn Ruheständler mischten zuletzt auch beim Protest gegen Fluglärm oder hohe Mieten rege mit – und das mit Erfolg.
„Hände weg!“
Das Epizentrum des nun radikalsten Seniorenwiderstands liegt in einer Villengegend im Nordosten Berlins. Alte Residenzen der DDR-Elite, Botschaften, ein kameraüberwachter Tennisplatz. Vögel zwitschern, kaum ein Auto verirrt sich hierher. Seit Freitag ist das anders. Seitdem hängt am Zaun der Nummer 10 ein Transparent: „Dieses Haus ist besetzt.“ Und: „Hände weg!“ Seit der Besetzung reißt der Strom der Neugierigen nicht ab.
In der grau verputzten Villa laufen die Rentner das knarzende Parkett hoch und runter, vorbei an Pressspankommoden und selbstgemalten Blumen-Aquarellen. Journalisten laufen hinterher, Kameras filmen Häkeldecken im Canasta-Raum oder die Veranda hinterm Haus, mit Blick auf Birn- und Apfelbäume. Immer wieder kritzeln Besetzer Termine in den Protestplaner neben der Küche. Mittwoch, 16 Uhr Anwälte-Besuch, 17 Uhr Chorprobe.
Keine fünf Minuten, ohne dass das Telefon klingelt. Regelmäßig treten Unterstützer durch die offene Haustür. Ob man helfen könne? Einige bringen Erdbeeren, andere Eier oder Schokolade. In der Küche schnippelt ein rundlicher Mann der Linkspartei Gemüse für eine Linsensuppe. Mit dem Haus habe er nichts zu tun, sagt er. Das Kochen aber sei sein Beitrag für die „tolle Aktion“. „Man muss sich nicht jeden Scheiß gefallen lassen.“ Ein 72-jähriger Besetzer verabschiedet zwei Gäste. „Danke, empfehlen Sie uns weiter!“
Zwischen all dem steht Doris Syrbe, fasst sich an den Kopf, bläst die Wangen auf. „Ufff“, entfährt es ihr, dann gibt sie das nächste Interview. Syrbe, 72 Jahre, rotgefärbe Locken, blauer Lidschatten, ist Vorsitzende des Seniorenvereins. Gut 300 Rentner gehören dazu. Sie treffen sich hier zu Brettspielen, Gymnastik oder Sprachkursen. Jetzt ist Syrbe die Wortführerin der Besetzer.
Internationale Unterstützung
Natürlich haben einige Angst gehabt, sagt Syrbe. „Aber die Besetzung war goldrichtig. Mehr Unterstützung hatten wir noch nie.“ Man merkt, wie ihr der Trubel zusetzt. Syrbe wirkt gehetzt – aber nicht unglücklich. Auch die anderen strahlen, wenn sie Besuchern von ihrem Coup berichten. Sie genießen ihre neue Rolle: Besetzer statt Canasta-Truppe. Ein Abenteuer.
Sie haben den Bezirk unter Druck gesetzt, nur indem sie blieben. Jetzt besuchen Bundestagsabgeordnete die Senioren, Politinitiativen bejubeln ihre Chuzpe. Junge Mietenaktivisten brachten Matratzen und Decken vorbei. Eine autonome Wagenburg übermittelte Solidaritätsgrüße. Im Haus füllt sich ein gelbes Unterstützerbuch. „Bleibt stark!“ „Kämpft weiter!“ Selbst zwei Touristen aus Rotterdam haben sich hierher durchgeschlagen und eingetragen.
Im Bezirksamt, ein Dreietagenneubau, lässt Jens-Holger Kirchner lange Pausen entstehen, bevor er antwortet. Der grüne Vizebezirksbürgermeister weiß um seine Lage. Wie, bitte, soll man eine Gruppe Großmütter räumen, ohne am Ende als Verlierer dazustehen? „Der Protest überrascht uns nicht“, sagt Kirchner. „Die Art und Weise schon.“ Der 52-Jährige berlinert etwas, war früher Tischler, heute trägt er meist Jackett und Hemd. Seit sechs Jahren ist Kirchner Bezirksrat für Stadtentwicklung, die letzten Monate hielten ihn auch die Senioren aus der Stillen Straße auf Trab. „An der Haltung des Bezirks hat sich nichts geändert“, sagt Kirchner. Die Polizei lasse man erst mal außen vor.
2,5 Millionen Euro, sagt Kirchner, so viel würde die Sanierung kosten, Brandschutz, Barrierefreiheit. „Das haben wir einfach nicht.“ Zudem habe man allen Seniorengruppen Ausweichorte angeboten. Keiner müsse zu Hause bleiben. Plötzlich wird der Grüne energisch. Jetzt mal ehrlich, was solle sein Bezirk denn machen? Seit Jahren bekomme man immer weniger Geld vom Land. Mehrere Millionen Euro habe man zuletzt wieder sparen müssen, habe noch Bibliotheken und Kultureinrichtungen von der Streichliste gerettet, ein Bezirksamt verkauft und Straßenbaugelder in Schulen gesteckt. „Das ist hier die Realität.“
Kämpfen bis zum Schluss
In der Stillen Straße schütteln sie die Köpfe. „Alles vorgeschoben“, sagen die Rentner. Überall werde Geld verschleudert, kritisiert Doris Syrbe. Allein die geplatzte Eröffnung des Berliner Großflughafens koste 500 Millionen Euro. „Nur für die Alten ist nichts da?“ Ute Kölbel, 72 Jahre und Sportlehrerin im Klub, berichtet, ihr habe der Bezirk andere Räume angeboten. „Harte Fliesenböden, keine Umziehräume, alles mit Tischen zugestellt, irrsinnig.“ Syrbe macht ein ernstes Gesicht, hebt die linke Augenbraue. Der Seniorentreff sei eine gewachsene Gemeinschaft. „Die werden wir nicht kampflos auseinanderreißen lassen.“
Als in den letzten zwei Jahren Berliner gegen Fluglärm rebellierten, befragten Sozialwissenschaftler der Universität Göttingen die Demonstranten: Über 70 Prozent von ihnen waren älter als 45 Jahren, jeder fünfte war Rentner. Fast alle sagten, sie seien gut situiert, gebildet und Stadträndler. Wie jetzt in Pankow. Auch das Berliner Volksbegehren gegen hohe Wasserpreise wurde vielfach von Ruheständlern getragen. Und in Kreuzberg, am Kottbusser Tor, harren Anwohner nun seit fünf Wochen in einem Camp gegen steigende Mieten aus, darunter nicht wenige Senioren.
Neu ist der Widerstand der Alten nicht in Berlin. Eher schon sein Erfolg, der den der Studenten und Autonomen bisweilen überflügelt. Nach den Fluglärm-Demos wurden fast alle Flugrouten in Schönefeld noch einmal geändert. Das Wasser-Volksbegehren wurde das erste erfolgreiche überhaupt in der Stadt.
Auch die Truppe in der Stillen Straße ist kampferprobt. Die Senioren protestierten im Bezirksparlament, führten im April eine Demonstration gegen Sozialkürzungen an. Vielleicht hilft ihnen auch ihre Vergangenheit. Fast alle Besetzer kommen aus der DDR. Die verordnete bekanntlich die emanzipierte, politische Frau. Aber auch das Verordnete wirkt nach. Und gewiss kein Zufall, dass sich als erste Partei die Linke solidarisierte.
Das Haus nie alleine lassen
Vor drei Jahren mussten die Pankower Alten schon einmal um ihr Haus kämpfen. Auch damals fehlte Geld, auch damals machten die Rentner Rabatz. Am Ende blieb das Haus offen. Und die Sozialstadträtin, Lioba Zürn-Kasztantowicz, sagte, es sei immer ihr Anliegen gewesen, die gute Arbeit der Ehrenamtlichen zu erhalten. Heute verweist Zürn-Kasztantowicz wieder auf das fehlende Geld. Sie müsse an alle im Bezirk denken, sagt die 59-Jährige, seit Jahrzehnten Sozialdemokratin. „Nicht an die, die am meisten Trubel machen.“
Zürn-Kasztantowicz hat die Senior-Besetzer für Dienstag ins Bezirksamt eingeladen. Die lehnen ab. „Wer weiß, was dann mit dem Haus passieren würde“, argwöhnt eine 73-jährige, frühere Kita-Chefin. Stattdessen haben die Rentner die Bezirksspitze in die Stille Straße eingeladen. Zum Freitag, dem einwöchigen Jubiläum der Besetzung.
Es sind die Senioren, die jetzt die Agenda bestimmen. Man werde bleiben, bis das Haus gerettet sei, sagen sie. Man habe Zeit. Wenn es nicht anders geht, werde sie sich auch von der Polizei forttragen lassen, sagt Sportlehrerin Kölbel. Die Senioren, sagt Jens-Holger Kirchner, der Grüne, seien im Bezirk „eine ernstzunehmende Kraft“. Das habe man schon länger gewusst.
Doris Syrbe, die Besetzerin, quittiert solche Aussagen mit leichtem Lächeln. Die Alten, sagt sie, seien eben nicht mehr wie vor dreißig Jahren. „Stricken und hinterm Herd, das war mal.“ Politisch, betont die 72-Jährige, sei man schon immer. Nur hätten bisher Trillerpfeifen und Demos gereicht. Nun müsse man eben besetzen. „Also besetzen wir.“
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