■ Berliner Reichstag kriegt seinen Stoff aus Westfalen: 100.000 Quadratmeter für Christo
Emsdetten (taz) – Gerne erzählen die alten Emsdettener Textiler Gästen vom New Yorker Juteexporteur, der in den Dreißigern in seinem Büro eine Weltkarte mit Emsdetten in der Größe einer Hauptstadt hängen hatte. Für einen anderen New Yorker, nämlich den bulgarisch-amerikanischen Verpackungskünstler Javacheff Christo, wird der münsterländische Ort in der Eigenschaft als Textilstadt heute wieder eine wichtige Bedeutung haben: Christo hat der Emsdettener Firma Schilgen GmbH & Co. den Zuschlag erteilt, den Stoff für den „Reichstag wrapped“ zu produzieren. „Wir hatten natürlich gehofft, daß wir das richtige Produkt zum richtigen Preis angeboten hatten, waren aber doch überrascht, daß es geklappt hat“, kommentiert Geschäftsführer Stephan Schilgen (41), der den Familienbetrieb in der 34.000 Einwohner zählenden Stadt Emsdetten in der vierten Generation leitet, Christos Entscheidung. Und mit einem gewissen Siegesbewußtsein merkt er an: „Unser Preis-Leistungs-Verhältnis konnte eben keiner der sechs Konkurrenten schlagen.“ Urgroßvater Stephan Schilgen gründete im Jahre 1873 zusammen mit Jodocus Schilgen den Textilbetrieb in der westfälischen Arbeiterstadt. Heute beliefert Schilgen mit seinem Heimtextilienangebot die führenden Teppichhersteller Europas. Vor zehn Jahren wurde die Produktpalette durch den jetzigen Schwerpunkt der Firmenproduktion, technische Gewebe für die Bereiche Industrie-, Schutz- und Agrartextilien, erweitert. Eine Spinnerei und Weberei stehen in Emsdetten.
Die westfälische Textilfirma beschäftigt heute 240 Mitarbeiter, die mit 85 Webmaschinen 21 Millionen Quadratmeter Stoff produzieren und einen Umsatz von 55 Millionen Mark erwirtschaften. 100.000 Quadratmeter Stoff „made in Emsdetten“ entstehen täglich auf dem Schilgenschen Imperium, etwa genausoviel soll das Stück deutscher Geschichte in Tiergarten einhüllen.„Von der Größenordnung und vom Auftraggeber Christo her ist das Projekt natürlich interessant, die Arbeit ist aber eher Routine“, betont der Emsdettener Fabrikant. „Wir werden zwei Webmaschinen drei Monate lang für Christo weben lassen“, erläutert Schilgen, der für das 650 Gramm pro Quadratmeter schwere Polypropylengewebe mit der daraufgedampften Aluminiumschicht einen Preis von fünf Mark veranschlagt, ergo etwa 500.000 Mark Finanzvolumen einstreichen wird. Die besonderen Eigenschaften des von der Firma Schilgen schon 1992 entwickelten Filtrationsgewebes ist der schwere Faltenwurf, die schwere Entflammbarkeit und die hohe Zugfestigkeit – und eben der Preis.
Christo hat an die Anbieter die Bedingung der Wiederverwertbarkeit gestellt. Schilgen dazu: „Wenn man heute etwas produziert, muß man zusehen, daß es entsorgbar ist. Aus unserem Christo-Gewebe können Abdeckplanen gemacht werden. Im schlimmsten Fall müssen wir regranulieren, und dann wird neuer Kunststoff daraus gespritzt werden.“
„Alle Mitarbeiter haben natürlich viel Spaß an der Sache“, spricht der Chef für seine Arbeiter, und der für Christo zuständige Webmeister Egon Achterberg meint: „Das ist ein schöner Auftrag für die Mäuse“.
Der Christo-Auftrag wird an sinkenden Mitarbeiterzahlen durch die allgemein schlechte Konjunkturlage in der Textilbranche auch bei Schilgen nichts ändern. „Es werden keine neuen Arbeitskräfte eingestellt werden, keine neuen Maschinen angeschafft“, so Schilgen, und weiter merkt er an: „Die Kunden, die wir haben, beziehen keinen Quadratmeter mehr, weil wir Christo beliefern, im Endeffekt ist diese Sache nur gute PR für uns.“ Claudia Pius
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