Berliner Brause Wostok: Fichte im Abgang
Weder Bio noch Nade. Wostok will eine ehrliche kleine Brause sein. Der Erfinder und viele Kneipiers schwören auf das Zuckerwasser, das im Abgang an ein Erkältungsbad erinnert.
Was für ein Moment! Wenn einer vor einem 10.000-Liter-Bottich steht, in einem hessischen Ort namens Butzbach, der ihm kurz zuvor völlig unbekannt war. Wenn es schäumt, weil er noch etwas Zitronensäure in den Bottich gekippt hat. In so einem Moment müssen sich Glück und Panik abwechseln. Panik, weil er weiß, dass in Deutschland gerade haufenweise Leute mit Modebrausen reich werden wollen. Und Glück, weil er gerade etwas selber gemacht hat. Etwas Eigenes, das es nicht gäbe, wenn Joris van Velzen nicht da wäre. Wostok.
Wostok ist ein Getränk aus Berlin-Kreuzberg. Es schmeckt nach Haribo-Colafläschchen, nach etwas Zitrone, nach Schwarztee und einer Spur Kardamom. Die Kohlensäure bitzelt angenehm an die Nase, und im Abgang verblüfft ein Geruch, der an Erkältungsbad mit Tannen- oder Fichtenöl denken lässt. Manche lieben die Brause, sagt ihr Hersteller Joris van Velzen. Die anderen finden sie ekelhaft.
Das ist offenherzig, wenn man bedenkt, dass van Velzen Wostok gerade erst in den Markt drücken will. Aber damit sind wir auch schon bei einer Besonderheit, denn der Mann mit dem Schneeflöckchenmuster auf dem Pullover propagiert nicht nur ein Erfrischungsgetränk, sondern auch eine neue Qualitätskategorie: die Ehrlichkeit.
Die Geschichte ist in der aktuellen vom 23./24. Januar 2010 erschienen - jeden Sonnabend gemeinsam mit der taz am Kiosk erhältlich.
Die Zutaten: Das Erfrischungsgetränk Wostok enthält Wasser, Zucker, Kohlensäure, Zitronensäure und - als Farbgeber - Karamellzuckersirup. Zu den Aromen zählen Taigawurzel, Fichtennadelöl, Eukalyptus, Kardamom und Schwarztee. Sellerie und Pasteurisierung dienen der Konservierung.
Der Vertrieb: Die 0,33-Liter-Flasche kostet in kleinen Läden und Kneipen zwischen 1,20 und 2,50 Euro. Die Brause aus Berlin-Kreuzberg will sich langsam von Kneipe zu Kneipe ausbreiten. Neben Berlin führen es inzwischen auch Kneipen in Potsdam, Düsseldorf, München, Nürnberg und Basel (siehe www.tannenwald.de). Anfordern kann man es auch per Mail unter info@tannenwald.de.
Der Markt: Der Verbrauch alkoholfreier Getränke ist in den vergangenen Jahren enorm gestiegen: zwischen 1986 und 2007 um 58 Prozent. Gleichzeitig differenziert sich das Angebot an Brausen in Mini- und Mikromarken aus - unter anderem angetrieben von der Erfolgsgeschichte der Bionade.
Trägt Wostok das Biosiegel? "Bio ist überschätzt - ehrlich ist gut genug." Ist Wostok gesund? "Nee, ist Zuckerwasser mit Geschmack. Aber manchmal hat man eben Bock auf Zuckerwasser mit Geschmack." Solche Sätze sind erstaunlich, denn Herr van Velzen, der sich hier als eine Art Meister Eder der Brausen inszeniert, ist Werbeprofi. Er ist Fotograf, und das Ziel seiner Auftraggeber ist es, das sagt er ja selbst mit seinem leichten niederländischen Akzent, den Leuten ein Produkt "anzuschmieren".
Bevor Joris van Velzen zum Anschmieren und von dort zum Anrühren kam, zog er erst mal in die Sowjetunion. 1989 war das, er ging dorthin, um als Pressefotograf zu arbeiten. Er machte Reportagen über frühere Gulags oder den Hafen von Murmansk. In Moskau wohnte er in der Marksiskaja 1. Im Haus war eine Kaufhalle, wo van Velzen sich Milch, Brot und Fisch besorgte. Wodka mochte er nicht. Aber Brausen. Er nahm sich mal das knallgrüne Tarchun mit Waldmeister- und mal Buratino mit Kaugummigeschmack. Oder das hellbraune Baikal, die sowjetische Antwort auf Cola, das Taigawurzel enthielt und sogar das stimmungsaufhellende Johanniskraut. Immer wenn es Baikal gab, packte sich Joris van Velzen gleich zehn Flaschen ein.
Im August 1991 hatte der Fotograf Panzer vor der Linse. Auf Gorbatschow folgte Jelzin, die Sowjetunion meldete sich ab. In der Kaufhalle in der Marksiskaja 1 kamen Westprodukte in die Regale. Die Kapitalisten, die mit ihren Waren den Markt erobern wollten, brauchten für ihre Werbung einen guten Fotografen. Van Velzen sagt: "Im Prinzip habe ich denen geholfen, ihre Produkte den Russen anzuschmieren."
Zehn Jahre später hat er Moskau nicht mehr gemocht. Zu hart und zu schnell, sagt er, zu viele Menschen und Autos. Da ging er mit der Familie nach Berlin, macht er eben seine Fotos für Russland von Berlin aus. In seinem Kreuzberger Studio steht eine Magnumflasche Wodka, nicht für ihn, denn, wie gesagt, er mag keinen Schnaps. Sondern für die Kampagne eines Kunden.
Im Oktober 2008 saß er allein in einem Café in Berlin. In Moskau machten die Kapitalisten wieder mal eine Krise durch, es gab weniger Werbeaufträge. Van Velzen dachte an das Getränk, das er damals so gern gehabt hatte und das es nicht mehr gab. Baikal. Er fasste einen Plan. Er würde Baikal nach Deutschland holen. "Wenn ich es trinke, würden es andere auch tun. Weil ich bin ja nicht pervers."
Beim nächsten Moskauaufenthalt fuhr er zum zuständigen Staatsinstitut und traf einen Professor namens Lew Oganestjants. Der kannte die Baikal-Formel. Er recherchierte weiter, es gab ein Labor in Darmstadt, das Baikal nach seinen Wünschen verändern konnte. Johanniskraut musste raus, weil die deutschen Getränkevorschriften es verbieten. Die Konservierungsstoffe mussten raus, stattdessen sollte Sellerie die Brause haltbar machen. Der Zuckeranteil sollte runter. Aus Baikal wurde Wostok.
Er schnüffelte an Geschmacksmustern aus dem Labor. Foto einer Kreuzbergerin, Mütze auf den Kopf, Tannenzweig in die Hand, Etikett, fertig. Er fand die Äppelwoi-Kelterei in Butzbach und stand am 29. April, zwei Tage vor seinem 40. Geburtstag, vor dem 10.000-Liter-Bottich. Der Sattelschlepper, der die 30.000 Flaschen nach Berlin bringen sollte, wartete schon.
Jetzt ist Wostok natürlich eine kleine Nummer. Es gibt Skull und LemonAid. Aloha und Premium Cola. Beo und Zisch. Fanta und Cola sind auch noch da. Allein von der Bionade werden jährlich 150 Millionen Flaschen abgefüllt. Aber van Velzen sagt, dass er zufrieden ist. Nicht mal ein Jahr nach dem Start, hat er dem Finanzamt nur 35.000 Euro Minus melden müssen. Einen Kredit hat er nicht aufgenommen, sagt er, da könnte er nicht gut schlafen. Er möchte keine Vertreter mit Dienstwagen und Kosten und Abrechnungen. Teure Werbung sowieso nicht.
Er hat die Internetseite www.tannenwald.de, er hat das Etikett und er hat die Story von Baikal, der sowjetischen Antwort auf Cola. All das ist geschickt zusammengebaut, die Assoziationen gehen auf wie kleine Fenster.
Wostok heißt Osten. Es war zugleich der Name der sowjetischen Antwort auf das Apollo-Programm der Amerikaner, in der Wostok 1 flog 1961 Juri Gagarin um den Erdball. Und die Frau auf der Flasche transportiert Retro und Leidenschaft. Auf dem Etikett hinten steht Kreuzberg. Arbeiterviertel, links, Boheme. Die Filmchen auf der Website haben Eisenstein-Ästhetik, etwas Riefenstahl und etwas liebevollen Gaga. Schwarz-Grün, Lenin, Leni, Tanne, Fichte und Frische - alles in einer Flasche. Er sagt: "Die Kneipiers stehen drauf."
Es läuft. Er hat jetzt eine Mitarbeiterin einstellen müssen. Bald sind die Wostok-Kästen schon wieder alle, und er muss in Butzbach nachordern. Aber er will langsam machen. "Die Bionade-Falle ist: zu schnell wachsen. Meine Brause soll weder Bio noch Nade sein. Bei mir soll es gemütlich bleiben." Das hört sich arg ehrlich an. Wo er noch hinterher ätzt, dass Bionade ja jetzt mehrheitlich Dr. Oetker gehört und von Coca-Cola vertrieben wird. Wo er doch sagt, dass er Wostok ja nicht Baikal nennen konnte, weil der Name auf dem spanischen Markt geschützt ist. Wo er sich die Domains wostok.ch und wostok.at gesichert hat. wostok.be, wostok.nl, wostok.dk, wostok.fr ebenfalls. Und so einer behauptet, er wolle um Gottes willen nicht so schnell wachsen?
Aber womöglich stimmt es doch. Womöglich will Joris van Velzen diesmal nicht verschmelzen mit der gefräßigen Welt, für die er Reklamebilder schießt. Nicht mit seinem eigenen seltsamen Produkt, das er von A bis Z selber gemacht hat und das nach Colafläschchen schmeckt, nach Zitrone und Kardamom und das einen im Abgang an ein Erkältungsbad denken lässt. Mit Tannen- oder Fichtenöl drin.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland