Berliner Artenvielfalt: Die Natur der großen Stadt

Ist Berlin für Tiere und Pflanzen ein Paradies oder doch eher eine Zumutung? Darüber streiten die Naturschutzexperten. Das Land will seine Artenvielfalt schützen - spart jedoch in diesem Bereich.

Noch kommen sie jedes Jahr wieder: Kraniche fliegen zu ihrem Übernachtungsquartier unweit von Luckau. Bild: AP

Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein: Für viele Tiere und Pflanzen ist die Großstadt keine unwirtliche Betonwüste, sondern ein einladender Lebensraum, sagt Josef Reichholf, Professor für Naturschutz in München. Vögel, Füchse, Käfer und Gräser suchten sich hier ihre Nischen. Die städtische Struktur von Häusern, Parks und Brachen sei sehr vielseitig. Hier fänden Tiere und Pflanzen teils bessere Bedingungen vor als draußen auf dem Land, wo große Flächen agrarwirtschaftlich genutzt würden, sagt Reichholf. Sein Fazit: Berlin ist eine "Insel der Vielfalt", umgeben von einem "Meer von Monotonie".

Ungewöhnliche Töne in einer Zeit, in der längst nicht mehr nur Naturschützer den massiven Schwund von Tier- und Pflanzenarten und ihren Lebensräumen beklagen. In Bonn treffen sich bei einer Konferenz der Vereinten Nationen ab Montag Vertreter aus der ganzen Welt, um darüber zu beraten, wie das Sterben der Arten in den kommenden Jahren aufgehalten werden kann.

Ist Berlin gar nicht von dem Problem betroffen und damit fein raus? Falsch, sagen andere Experten. Wenn man die Brachflächen der Stadt mit bewirtschafteten Feldern in Brandenburg vergleichen würde, fände man zwar auf der Brache sicher mehr Gräser, Insekten und Vögel, glaubt Klemens Steiof, zuständig für Artenschutz bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. "Aber zu behaupten, die Artenvielfalt in Berlin sei allgemein höher als auf dem Land, ist populistisch verkürzt."

Natürlich höre jeder gerne, dass sich viele Tiere und Pflanzen in der Stadt wohl fühlten. Das treffe aber oft nicht zu. "In Berlin steht im Durchschnitt über die Hälfte des Artenbestands auf den Roten Listen." Bei den Reptilien seien sogar alle vorkommenden Arten gefährdet. Zudem geht es nicht um die Menge der Arten, sondern auch um ihre Seltenheit, findet Steiof. "Da kann Berlin mit Brandenburg nicht mithalten."

Und doch ist auch an Reichholfs Argumenten etwas dran. Der Zoologe aus München nennt mehrere Gründe, die das Stadtleben für Arten angenehm machen: Zum einen seien Tiere in Wohngebieten sicher, weil sie nicht wie häufig auf dem Land gejagt würden. Ein Beispiel dafür ist der Habicht, der inzwischen in allen größeren Parks sein Revier hat (siehe rechts). Vögel werden im Winter zudem gefüttert. Städte seien so attraktiv, dass die Artenzahl an Vögeln mit der Größe der Stadt ansteige und nicht etwa abnehme, sagt Reichholf. "Berlin ist die vogelreichste Stadt Deutschlands."

Aufgrund des trockenen Klimas könnten sich im bebauten Gebiet zudem Arten halten, die im feuchteren Umland aussterben. Auch die Struktur der Städte kommt Reichholfs Meinung nach vielen Tieren und Pflanzen entgegen. Grünanlagen, Kleingärten, Häuser und Brachen wechseln sich ab - sie bilden ganz verschiedenartige Lebensräume.

Tatsächlich sind es vor allem die Brachen, auf denen sich hierzulande Grünzeug und Getier ungestört ausbreiten können. Berlin bietet aufgrund seiner Geschichte mehr davon als andere Städte: Der ehemalige Grenzstreifen war und ist teilweise heute noch ein Biotop für seltene Pflanzen. Die Natur profitierte auch davon, dass die industrielle Produktion in den Neunzigerjahren vielerorts wegfiel. Auf stillgelegten Güterbahnhöfen und Fabrikgeländen haben Tiere und Pflanzen meist ihre Ruhe.

Bis dann doch der erste Bagger anrückt - womit wir bei den Nachteilen wären, welche die Stadt für viele Arten mit sich bringt. Mit der Versiegelung der Böden schwindet ihr Lebensraum. "Die offenen Flächen werden weniger", kritisiert Edelgard Backhaus von der Berliner Landesarbeitsgemeinschaft Naturschutz (BLN), einem Zusammenschluss von Naturschutzverbänden.

So ist der Potsdamer Platz längst bebaut. Auch auf dem Gelände nördlich des Hauptbahnhofs soll bald ein neues Wohnquartier entstehen. Bei der Sanierung von Altbauten gehen wiederum Spalten und Lücken verloren, in denen vorher Vögel nisten konnten.

Hinzu kommen in der Stadt weitere Belastungen: der Lärm, der Schmutz, die Abgase. Das Licht der Laternen bringt beispielsweise Insekten, die sich sonst nach dem Mond richten, um ihre Orientierung. Sie kreisen um die Lampen und sterben irgendwann. Für Säugetiere und Amphibien wie Füchse und Frösche stellen auch Straßen ein gefährliches Hindernis dar.

So werden verschiedene Populationen in der Stadt voneinander isoliert. Straßen, Schienen und Siedlungen verhindern, dass sich Tiere und Pflanzen austauschen. Der Käfer Eremit lebt beispielsweise in alten Parkeichen. Wie aber soll er von einem Park in den nächsten gelangen, um fremde Eremiten zu treffen? Es droht die genetische Verarmung.

Deshalb will das Land nun einen Biotopverbund schaffen: Die Lebensräume sollen miteinander vernetzt werden. An Schleusen könnte es bald Fischtreppen geben. Für den Biber, der sich erfreulicherweise wieder in der Stadt ausbreitet, sollen an den Kanälen mehr Ausstiege gebaut werden. Für den Käfer Eremit müsste man zusätzliche Eichen pflanzen und pflegen. "Der Biotopverbund ist ein guter Schritt, um die Förderung der Artenvielfalt konkret zu machen", lobt Edelgard Backhaus von der BLN.

Die Großstadt birgt für Tiere und Pflanzen also viele Chancen - aber eben auch Risiken. Um die zu verringern, werden bestimmte Gegenden vor Menschen geschützt. Die Naturschutzgebiete nehmen derzeit 2,2 Prozent der Fläche Berlins ein. Zwölf Prozent gelten als Landschaftsschutzgebiet mit weniger strengen Auflagen - diese Bereiche dürfen auch land- und forstwirtschaftlich genutzt werden.

Berlin hat sich Mitte der Neunzigerjahre das Ziel gesetzt, die Naturschutzgebiete auf drei Prozent der Landesfläche zu vergrößern, die Landschaftsschutzgebiete auf 20 Prozent. Ein stolzes Vorhaben, dem allerdings die zeitliche Verbindlichkeit fehlt. "Es gibt keine Frist, bis zu der die Ziele erfüllt sein müssen", bestätigt Holger Brandt von der Naturschutzbehörde. Ein großes, neues Landschaftsschutzgebiet könnte aber schon im nächsten Jahr hinzukommen. "Zurzeit arbeiten wir daran, auch die Wald- und Seenlandschaft in Treptow-Köpenick unter Schutz zu stellen."

Wie viel für den Erhalt der Arten getan wird, ist immer auch eine Frage des Geldes: Das Land gibt heute für die Naturschutzgebiete 1,2 Millionen Euro pro Jahr aus. 1990 hätte allein für Westberlin eine Summe von 5,6 Millionen Mark zur Verfügung gestanden, berichtet Brandt. "Mit Ostberlin kamen große Gebiete hinzu, aber die Mittel wurden um die Hälfte gekürzt."

Die politischen Konflikte werden im Tagesgeschäft meist dann deutlich, wenn ein neues Verkehrsprojekt ansteht. Das bringt die Naturschützer auf die Barrikaden: So prangert der BUND schon lange den geplanten Ausbau von Havel und Spree an. "An den Ufern leben seltene Arten, zum Beispiel auch der Biber", sagt Winfried Lücking, Leiter des Flussbüros beim BUND. Die Tiere ernährten sich von den Weichgehölzen am Rand. "Wenn das alles wegfällt, wird der Biber nicht mehr weiter in die Stadt kommen."

Der naturschutzpolitische Sprecher der Grünen, Stefan Ziller, warnt: "Auch bei der Verlängerung der Stadtautobahn A 100 von Neukölln bis Treptow werden wieder geschützte Arten draufgehen." Der Naturschutzbund Nabu hofft, dass der Senat bei der Nachnutzung des Flughafens Tempelhof auf die dort lebenden Feldlerchen Rücksicht nimmt.

Beim deutschlandweiten Wettbewerb um die "Bundeshauptstadt im Naturschutz" der Deutschen Umwelthilfe holte 2007 übrigens nicht Berlin, sondern Heidelberg den Titel. Berlin belegte bei den Städten mit über 100.000 Einwohnern den vierten Platz.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.