Berliner Adventskalender (1): Die Bundesstraße 1
Verschwundene Plätze, tote Herzen und konservierte Bürger. Die Bundestraße 1 führt quer durch die Stadt.
"Richtung Tiergarten/Alexanderplatz": Auf dem Mühlendamm in Mitte sieht das quietschgelbe Straßenschild mit der schwarzen Eins noch ziemlich frisch aus. Dabei hat die Bundesstraße B1, die aus dem polnischen Küstrin kommend Berlin von Ost nach West durchschneidet und bis nach Aachen führt, da schon einiges hinter sich: Das Plattenbauhotel B1 in Kaulsdorf, die stalinistische Zuckerbäckerarchitektur der Karl-Marx-Allee und den Alexanderplatz. Wer dem Verlauf der B1 durch die Innenstadt folgt, macht eine Reise durch die Geschichte Berlins jenseits der bekannten Sehenswürdigkeiten. Mit dem Fahrrad lassen sich entlang der Route Details entdecken, die auch nach vielen Jahren des Umherziehens in der Stadt noch zum Staunen anregen.
Zum Beispiel der Petriplatz, den es eigentlich gar nicht gibt - zumindest noch nicht. Gegenüber den Hochhäusern der Fischerinsel steht ein Bauzaun vor einer langen Halle. Darin beugen sich drei ArchälogInnen über das, was einmal der zentrale Platz der mittelalterlichen Stadt Cölln war. Das erste gemeinsame Rathaus der Doppelstadt Berlin-Cölln soll hier ab 1307 gestanden haben. Und die fünf bisherigen Petrikirchen, von denen die letzte 1960 abgerissen wurde. 2006 beschloss der Senat die Wiederherstellung des Platzes, seit 2007 wird gegraben. Postkarten von den Funden bekommt man im Café an der Kleinen Gertraudenstraße, das auf die Wiederwerdung der historischen Mitte setzt: Von "German Home-Style Cooking" und Erbseintopf unter rosa Stuck lassen sich Archäologen und alte Herren aus den angrenzenden Platten verwöhnen.
Die B1, die für ein kurzes Stück Gertraudenstraße heißt, führt als Leipziger Straße am Gendarmenmarkt vorbei und überquert Friedrich- und Wilhelmstraße. Wo einst Alfred Messels Wertheim-Kaufhaus stand, ist heute eine Brache. Die Immobilienfirma Orco behauptet seit Jahren, hier "das neue Herz von Mitte" bauen zu wollen. Auf dem Leipziger Platz lockt das Dalí-Museum mit einer Reise ins Hirn des Meisters. Die 11 Euro Eintritt schrecken auch ein holländisches Pärchen ab. Ins Kulturforum, das die Architektur Alfred Messels zeigt, gehen sie nicht. Dafür aber in die Neue Nationalgalerie Mies van der Rohes, der am westlichen Ende der B1 geboren wurde.
Hinter dem Potsdamer Platz mündet die Bundesstraße 1 in die Potsdamer Straße, von deren Ruf als Vergnügungsmeile nur das Wintergarten-Varieté, ein paar Bars und der Straßenstrich übrig sind. An der Ecke Bülowstraße zeigt ein Wegweiser, dass es 878 Kilometer bis Paris und 3.063 bis Baku sind, aber nur 7 Meter bis zum armenischen Tea Room. Dort gibt es vor allem Asserbaidschanisches, die nette Bedienung ist aus Kasachstan und serviert der russischsprachigen Nachbarschaft Grüntee und Mandeltörtchen.
Die Hauptstraße beginnt hinter dem Kleistpark. An der Nummer 8 führt ein schmaler Eingang zur Glasschleiferei von Hellfried Methner, dessen Gesellenstück vor 45 Jahren ein kunstvoll verzierter Berliner Bär war. Der Bär ist gesplittert, das Geschäft läuft schlecht, Methner hat an seinen früheren Lehrling verkauft und wird bald mit der Frau durch Italien reisen.
In einer gelben Villa, die sich Bauern vom Erlös ihres an die Eisenbahn verkauften Ackers bauten, residiert heute das Schöneberg Museum. Die "Wunderkammer" im Keller birgt Schätze wie ein frühes Wasserklosett, eine Staubsaugersammlung und einen echten toten Schöneberger.
An der Ecke Sachsendamm verschmilzt die B1 mit der Stadtautobahn. Mit dem Fahrrad ist die Tour hier zu Ende, die Geschichte(n), die sich bis zur Glienicker Brücke finden können, noch lange nicht. Foto: Apin
Morgen: der 2. Berliner Appell
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