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■ Berlinale-AnthropologieKleine Münze des Dekonstruktivismus

Die Anthropologie handelt von dem, was sich wiederholt. Nicht weil es menschliche Natur wäre, die stets gleich bleibt, sondern weil die gesellschaftliche Kommunikation für einen gewissen Zeitraum das Wiederholte wie menschliche Natur zu traktieren beschlossen hat; das ist einfach praktisch.

Wie Wiederholung das Leben bestimmt, machen vor allem Ereignisse deutlich, die ihre eigene Einmaligkeit gleich mitinszenieren. Die Eröffnung der 47. Filmfestspiele Berlin! Unvergleichlich! Weder die 46. Filmfestspiele noch die 48. Filmfestspiele! Und eröffnet wurde mit „Smilla's Sense of Snow“ statt – wie die 46. Filmfestspiele – mit „Sense and Sensibility“ (den ich inzwischen an einem feuchten Sommerabend des vergangenen Jahres gesehen habe in den Bundesplatz-Lichtspielen, Wilmersdorf, denen das unglaubliche Kunststück gelingt, die rentnerhafte Wohnküche in eine Zauberhöhle zu verwandeln).

Schon die Worte, die sich für die Beschreibung des unvergleichlichen Ereignisses einstellten, „Massenauftrieb“ beispielsweise oder „Blitzlichtgewitter“, machen einen stark abgesetzten Eindruck. (Wobei „Blitzlichtgewitter“ im großen und ganzen falsch ist, weil die ruhig-steten Lampen des Fernsehens die Szenerie beleuchten.)

Warum bewirkt das unvergleichliche Eröffnungsereignis immer wieder diesen Massenauftrieb? Letztes Jahr traf ich B. samt ihrem Eheherrn, die mit ihrem Kommen einen Glücksfall zu wiederholen hoffte: Bei irgendeiner früheren Berlinale- Eröffnung hatte ihr ein Wohltäter, unverhofft aus dem Hintergrund tretend, die Eintrittskarte zu dem Eröffnungsfilm geschenkt, Woody Allen, „Husbands and Wives“, wenn ich richtig erinnere.

Diesmal aber, für „Sense and Sensibility“, blieb der Wohltäter aus, und wir drei verschwadronierten den Abend in dem Delphi-Bistro (das auf meiner Mental map der Berliner Gastronomie immer noch fehlt – während sie verläßlich das antike, längst abgeschriebene Lokal „Volle Pulle“ verzeichnet, das um die Ecke, am Steinplatz, lag).

Auf eine Freikarte für „Smilla“ stand weder Sense noch Sensibility von B. Und mich wird kein feuchter Sommerabend in die Zauberhöhle der Bundesplatz-Lichtspiele treiben, wenn sie den Film aufführen. Der ist doch wie Pizza Alles Drauf!, schwadroniere ich. Bille August! Richard Harris! Vanessa Redgrave!

Sie sind es, die diesmal den Zuschauern vor der Tür zum Eröffnungsereignis verborgen bleiben, weil Fotografen und Kameraleute sofort dichte Klumpen um sie bilden. Die Wiederholung: Letztes Jahr waren in dieser Weise Emma Thompson und John Travolta für mich unsichtbar, während sie die Hauptsache darstellten. Die kleine Münze des Dekonstruktivismus, unterdessen klingt sie jedem in der Tasche: Die gierigste Aufmerksamkeit bleibt stets unbefriedigt, das Zentrum unauffindbar.

Die einfachste Technik, das Wiederholte gleichsam aufzurauhen, das Unvergleichliche des Gegenwartsereignisses herauszustreichen, besteht paradoxerweise in seiner Entwertung. Ja, letztes Jahr!, könnte ich schwadronieren, da wurde noch mit „Sense and Sensibility“ die Berlinale eröffnet, eine komplexe und intensive Auseinandersetzung von Film und Literatur, östlichem und westlichem Familialismus (o.s.ä.) – heuer bloß mit Bernd Eichingers Euro-Pizza. Jahr für Jahr verliert die Berlinale an künstlerischer Bedeutung...

Die ganze Zeit hegen Sie den Verdacht, ich sei gar nicht dagewesen bei der unvergleichlichen Eröffnungsveranstaltung. Stimmt. Beim letzten, meinem ersten Mal, ging ich fort mit dem befriedigenden Gefühl, alles gesehen zu haben von der Ereignishaftigkeit des Ereignisses. Warum jetzt statt eines Blicks von Emma Thompsons gefärbtem Haar denjenigen von Mario Adorfs weißem oder von Julia Ormonds Gesichtchen erhaschen? Schon wieder eine von der Sorte!, denkt in einer frühen Peter-Handke-Geschichte Gregor Keuschnig, als er auf der Straße einem schönen Mädchen begegnet. Das ist eine zweite Technik, die Unvergleichlichkeit des Ereignisses zu stabilisieren: die Wiederholung vermeiden.

Dann verwandelt sich das Ereignis freilich wie von selbst in ein Exemplar. Es ist sofort das Ereignis geworden. Michael Rutschky

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