: Berlin wird wieder Paradies
Schritt für Schritt ins Paradies, sang einst Rio Reiser mit seinen Ton, Steine, Scherben. Der Traum ist aus. Tatsächlich? Oder sieht das Paradies heute nur anders aus als vor 25 Jahren: kleiner und wilder?
VON GEREON ASMUTH
Berlin ist pleite. Der Landeshaushalt schleppt 60 Milliarden Euro Schulden mit sich herum. Mehr als 7 Millionen Euro Zinsen werden dafür fällig – pro Tag. Und wenn erwartungsgemäß das Verfassungsgericht in Karlsruhe Anfang 2006 die Übernahme eines Großteils dieser Schulden durch den Bund ablehnt, kann Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) als letzte Sparmaßnahme nur noch das Licht ausmachen. Die letzten Reste der Berliner Industrie machen das gerade vor: Samsung, Stiebel Eltron und JVC. Dabei liegt die Arbeitslosenquote schon jetzt bei unerträglichen 17,5 Prozent. Kurz gesagt: Berlin ist am Ende.
Wunderbar, frotzelt da die imaginäre Berliner Schnauze, da kann es ja nur noch aufwärts gehen! Und sie hat Recht. Berlin wird wieder zum Paradies, zu einem Paradies für neue Ideen.
Die Stadt war schon immer ein Ort, an dem Utopien nicht nur erdacht, sondern auch propagiert wurden. Östlich der Mauer arbeiteten Bürgerrechtler an einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Westlich der Mauer probte die linke Szene den Kampf gegen den Kapitalismus. Der Berlin-Teil der taz war ein Kind dieser Zeit.
Doch dann kam die Wende und mit ihr das Ende der „großen“ Utopien. Schritt für Schritt ins Paradies, wie einst die Scherben meinten? Quatsch! Der Traum war aus!
In Berlin gab es aber stets auch Menschen, die nach Wegen abseits der großen Visionen suchten. Die Alternativen, die Ökos, die Kollektive mit ihrer Selbstausbeutung, die Autonomen mit ihrer Selbstbestimmung.
Auch dieser Traum ist aus. „Kein Gott, kein Staat, kein Mietvertrag“ lautete eine gern gerufene Parole der Hausbesetzer. In der Kirche ist praktisch niemand mehr, den Mietvertrag haben die Exbesetzer gegen Genossenschafts- oder gar Eigentumswohnung getauscht. Nur mit der Absage an den Staat, da hapert es noch. Der soll es im Notfall immer noch richten.
Die Realität aber sieht anders aus. Gefragt sind neue Initiativen ohne staatliche Programme. Das klingt erschreckend nach Neoliberalismus oder schlimmer noch nach FDP. Die aber meint Privatisierung der Gewinne und Sozialisierung der Verluste.
Gefragt sind hingegen innovative Spinnereien mit Potenzial. Ideen wie die Idee von Dr. Motte, der 1989 die Love Parade erfand. Der Millionenhopser wurde wieder in die Mottenkiste gepackt, bevor er zur karnevalistischen Peinlichkeit verkam. Aber er prägt bis heute weltweit das Image einer modernen, jugendfreundlichen Metropole.
Oder die Initiative von Sasha Waltz. Die begann als Choreografin einst, die verrotteten Sophiensäle zu bespielen. Längst ist daraus ein Spielort geworden, den man nicht mehr missen möchte.
Oder die Initiatoren des Volkspalastes. Die haben den Palast der Republik zumindest vorübergehend zu neuem Leben erweckt. Und für jede Menge Diskussionen gesorgt.
Denn diese kleinen Initiativen bringen es wenigstens bis zum Versuchsstadium – anders als die Bürotürme am Alexanderplatz, hochfliegende Olympiapläne, der private Flughafenausbau in Schönefeld oder der Bau einer ganzen Reihe von „Mediazentren“ an der Spree, die allesamt nur als Planspiele existierten.
Nur die Politik hat das Potenzial der Basisinitiativen noch nicht wirklich begriffen. Sie denkt nach wie vor in Flächennutzungs- und Bebauungsplänen, die dann wer auch immer füllen soll. Von einem Laisser-faire auf öffentlichem Grund und Boden sind wir meilenweit entfernt. Dabei könnte sich genau hier das kreative Potenzial der Stadt ansiedeln.
Natürlich – es würde dort viel Unsinniges entstehen. Auch würde vieles scheitern. Manches aber wird sich entwickeln. Das ist die Zukunft – nicht mehr und nicht weniger. Schritt für Schritt – ins unbestimmte Paradies.