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Berlin steht bald ohne Hemd und Hose da

■ Krise in Textil- und Bekleidungsindustrie verschärft sich / Ein Drittel der Arbeitsplätze ist seit 1992 vernichtet worden

Das Wort „Krise“ kann die Verantwortlichen in der Berliner Textil- und Bekleidungsindustrie kaum mehr aufschrecken. Seit Jahren befindet sich ihre Branche im Dauersiechtum. Doch der Wegfall der Berlinförderung, die Nähe zu den osteuropäischen Billiglohnländern und nicht zuletzt die Rezession haben den Niedergang in den letzten Monaten rasant beschleunigt. „Die Textilindustrie droht aus dem Stadtbild völlig zu verschwinden, die Bekleidungsbranche wird sich an den Markt anpassen“, prophezeit Wolfgang Schmidt, Geschäftsführer des Verbandes der Berliner Bekleidungsindustrie.

Ein düsteres Bild zeichnet sich schon jetzt für die Textilbranche ab, die fast ausschließlich in Westberlin angesiedelt ist: Zählte sie Ende 1992 noch 3.585 Arbeiter und Angestellte, so waren es im August dieses Jahres noch 2.180 – rund ein Drittel weniger.

Hauptleiden der Textilindustrie, die erst in den sechziger Jahren wegen der kräftigen Bundessubventionen in Berlin ausgebaut wurde, sind vorangig Überkapazitäten auf dem Weltmarkt. „Der Wegfall der Berlinförderung nimmt einer so kapitalintensiven Branche mit ihren in der Anschaffung und Wartung teuren Produktionsanlagen einen Wettbewerbsvorteil“, meint Bernhard Gänger, Geschäftsführer der Gewerkschaft Textil und Bekleidung. Sein Vorschlag: wenigstens die Strompreise in Berlin zu senken. Sie lägen immer noch rund ein Drittel über dem Durchschnitt in den alten Bundesländern. Ein Umzug nach Brandenburg oder Polen lohnt sich für die Textilhersteller kaum noch: Zu hoch seien die Investitionskosten, die in einen neuen Maschinenpark gesteckt werden müssen, meint Schmidt. Zudem hätten sich auf dem Markt mittlerweile andere Länder mit weitaus günstigeren Löhnen sowie laxeren Umwelt- und Arbeitsschutzauflagen etabliert. So verfüge der frühere Baumwollieferant Türkei inzwischen auch über eine hochmoderne Textilindustrie.

Nicht weniger heftig als die Stoffhersteller leiden die Bekleidungsunternehmen der Stadt unter der ausländischen Konkurrenz. Fast utopisch wirken heute jene Zahlen aus den sechziger Jahren, als die Branche mit rund 40.000 Beschäftigten zu den stärksten Industriezweigen zählte – heute sind es nur noch rund ein Zehntel. Auch in den Bekleidungsbetrieben hat seit Ende 1992 bis zum August dieses Jahres ein kräftiger Aderlaß stattgefunden: Die Beschäftigtenzahl sank von 4.677 auf 2.685.

Anders als bei der kapitalintensiven Stoffherstellung wirkt sich bei der Bekleidungsbranche die billige Handarbeit verheerend auf den Standort Berlin aus. Das betrifft neben den seit jeher starken asiatischen und indischen Anbietern vor allem die osteuropäischen Dumpingpreise. Im nahegelegenen Polen kostet nach Angaben des Verbandes der Berliner Bekleidungsindustrie eine Lohnminute zwischen 18 und 23 Pfennig (Westdeutschland: 55 bis 60 Pfennig); in den baltischen Ländern werde gar für nur fünf Pfennig pro Minute genäht. Angesichts dieser traumhaften Bedingungen für die Unternehmen sieht der Arbeitgeberverband für die Berliner Bekleidungsbetriebe kaum noch Chancen: „Es wird nur noch eine rudimentäre Produktentwicklung geben, die klassische Näharbeit findet ja bereits weitgehend nicht mehr in Berlin statt“, so Schmidt. Die Hinwendung zu verstärkter kreativer Arbeit, zu Marketing und Logistik – das seien einige Auswege aus der Krise, glaubt Schmidt. Und die Aussicht, „irgendwann einmal wieder Weltmetropole zu sein“. Severin Weiland

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