: Berlin ist so krank wie nie
Die Diskussion über die Reduzierung der Krankenkassenleistungen hat viele Patienten verunsichert. Die reagieren und stürmen vor Jahresende die Berliner Praxen – solange es sie noch nichts kostet
von LIA PETRIDIS und BASTIAN BREITER
Es bleibt nicht mehr viel Zeit: Am 1. Januar 2004 tritt die Gesundheitsreform in Kraft, und auch in Berlin fürchten die Menschen die steigenden Kosten. Deshalb drängeln sie sich in den Wartezimmern oder stehen vor den Optikern Schlange – um noch ein letztes Mal günstig an Brillen, Zahnersatz oder Ähnliches zu kommen. Vorausschauende Vernunf oder unbegründete Panik? Die taz hat sich umgehört und schafft Klarheit.
Optiker und Augenärzte
„Gesundheitsreform? Frau Dr. sagt ’nen schönen Gruß. Sie hat keine Zeit, und das ist die Auswirkung.“ Die Praxis von Augenärztin Eva-Maria Fabricius ist seit Wochen ständig überfüllt. Immerhin vergibt sie noch Termine, das tun nicht mehr alle Praxen. Wie die von Dr. Wolfgang Hanuschik im Wedding beispielsweise. „Manche Augenarztpraxen um uns rum schließen einfach, und deren Patienten müssen wir dann auch noch übernehmen“, klagt Kerstin Schröder, Arzthelferin in Hanuschiks Praxis. 80 bis 100 Patienten behandeln sie täglich. „Gesundheitsreform? Nee, keine Zeit, dazu etwas zu sagen. Genau aus dem Grund ist unser Geschäft voll mit Leuten.“ Auch in der Fielmann-Filiale im Prenzlauer Berg stehen sich die Kunden auf den Füßen, weil sie schnell noch die eine oder andere bezuschusste Brille oder ein Paar Kontaktlinsen ergattern wollen. Alexander Ceccarelli von der Optikerinnung Berlin bestätigt das: „Berlins Optiker haben gut zu tun. Das betrifft den Mittelstand genauso wie die Ketten.“
Ab Januar gilt für Brillenträger: Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr und Menschen, die mit Hilfsmitteln nur etwa 30 Prozent sehen, bekommen auch in Zukunft eine Brille auf Krankenschein. Alle anderen müssen selbst zahlen.
Zahnärzte
„Hätten Sie noch viele Fragen, ich muss nach hinten, keine Zeit mehr.“ Die Helferin von Zahnarzt Wolfram Siedler wirkt gehetzt. „Weihnachten ist immer viel los, aber in diesem Jahr ist es mehr als schlimm. An der Einführung der Praxisgebühr liegt es nicht allein – die Leute sind einfach verunsichert.“ Ob zu Recht, ist noch nicht klar. Denn Vertrauen ist gut, Kontrolle aber besser. Die bleibt auch im neuen Jahr umsonst, doch zählt die Zahnsteinentfernung dann bereits als Folgebehandlung? Diese Frage will nicht einmal der Pressesprecher beim Bundesgesundheitsministerium beantworten: „Es wird noch verhandelt, was der Zahnarzt im Rahmen der Kontrolle machen darf, ohne dass die Gebühr fällig wird.“
Ab Januar gilt beim Zahnarztbesuch: Pro Quartal wird eine zusätzliche Praxisgebühr erhoben. Die Versorgung mit Zahnersatz wird erst ab 2005 neu geregelt.
Frauenärzte
„Seit ein paar Wochen kann ich in meiner Praxis etwas hysterische Situationen beobachten“, sagt Rainer Mogalle. Der Frauenarzt hilft vor allem Paaren, die sich künstliche befruchten lassen wollen. Die angehenden Eltern werden ab dem nächsten Jahr aber nur noch drei Befruchtungsversuche zur Hälfte bezahlt bekommen. „Dann müssen sie bis zu 2.000 Euro dazuzahlen“, sagt Mogalle. Eine Entwicklung, die er nicht gutheißt, denn: „Die Gesellschaft altert sowieso.“
„Mehr akute Fälle“ hat auch die Gynäkologenpraxis Uta Pätzig seit einigen Wochen zu verzeichnen: „Plötzlich gehen die jungen Mädchen alle für ein Jahr ins Ausland und brauchen die Pille in der Vorratspackung“, bemerkt die Arzthelferin Gülüstan Vludag. In beiden Praxen haben sie festgestellt: Viele der Patienten denken, dass die zehn Euro Gebühr im Quartal bei den Ärzten bleiben. Was aber nicht stimmt, denn das Geld wird an die Kassen abgeführt.
Ab Januar gilt: Bei künstlicher Befruchtung zahlen die Kassen nur noch drei Versuche und nur zur Hälfte. Diese Regelung gilt ausschließlich für Frauen von 25 bis 40 Jahren, Männer bis 50 Jahre. Bei Gynäkologen ist die Praxisgebühr von 10 Euro zu entrichten, die Vorsorgeuntersuchungen bleiben allerdings kostenlos.
Allgemeinmediziner
Medikamente hamstern oder am besten gleich im Vorratspack kaufen: Auch die Allgemeinmedizinerin Johanna Ebert in Steglitz kennt die Auswirkungen der kommenden Gesundheitsreform. Seit vier Wochen sitzen deutlich mehr Patienten in ihrem Wartezimmer als sonst. „Wir haben vor Weihnachten immer ein verstärktes Patientenaufkommen, aber in diesem Jahr ist es noch etwas mehr als sonst.“ Die Leute kämen inzwischen auch verstärkt zur Grippeimpfung – sogar, bevor die nächste Welle über das Land rollt. Denn die Patienten wissen nicht, was kommt. „Wir haben gar nicht unbedingt mehr Patienten“, sagt Nina Reuse, Arzthelferin in der Praxis von Helene Tillig-Torabi. „Aber sie sind panisch.“ Die Arzthelferin fühlt sich manchmal fast als Betreuerin und beantwortet geduldig alles, was die Patienten wissen wollen. „Die haben Fragen wie ‚Müssen wir jetzt immer zehn Euro zahlen?‘ “ Infomaterial hätten sie in der Praxis genügend ausliegen, „aber sehr konkret ist das auch nicht“.
Ab Januar gilt beim Hausarzt: Pro Quartal wird eine Praxisgebühr von zehn Euro fällig. Sie wird zwar direkt von den Ärzten erhoben, die führen sie aber an die Krankenkassen ab. Überweist der Haus- an einen Facharzt, muss die Gebühr nicht doppelt entrichtet werden.
Hauskrankenpflege
„Was die alten Leute zur Gesundheitsreform sagen?“, platzt es aus Elisabeth Meißner vom Christianien-Hauskrankenpflegedienst heraus. „Viel sagen die!“ Die meisten ihrer Patienten seien völlig verunsichert. Das Problem sei, dass sie vom Pflegedienst auch nicht genau wüssten, was auf sie zukommt. Marita Bauer, der Geschäftsführerin des Berufsverbandes für Pflegeberufe in Berlin, geht es ähnlich: „Die Reform wurde nicht an die Altenpflege angepasst.“ Gerade beim Transport, der für viele Pflegebedürftige sehr wichtig ist, wird es komplizierter und vor allem teurer: „Es fallen Zuzahlungen zu den Fahrtkosten, zu Pflege und Behandlung, die Praxis- und die Verordnungsgebühr an. Wenn dann von der Rente nur das so genannte Taschengeld übrig bleibt, wird es verdammt eng.“
Ab Januar gilt: Zehn Prozent der häuslichen Krankenpflegekosten müssen selbst bezahlt werden, allerdings nur bis zu 28 Tagen im Jahr. Die Kassen entscheiden, welche Fahrtkosten sie übernehmen. Für alle Versicherten einschließlich der Sozialhilfeempfänger gilt eine Belastungsobergrenze von zwei Prozent der Bruttoeinnahmen. Bei chronisch Kranken ist die auf ein Prozent reduziert.