: Berlin improvisiert, Tokio kauft
Klamotten vom letzten Jahr? Unmöglich in Tokio. In der Stadt der ständigen Erneuerung hat das Modehaus Sympathy Q jetzt Berliner Designer entdeckt. Bürsten aus der Blindenwerkstatt und Schokolade aus Wilmersdorf sorgen für authentisches Flair
von JÖRN MORISSE
Letzten Sommer titelte das New Yorker Modemagazin Nylon groß „I love Berlin“. In mehrseitigen Artikeln wurde Berlin als „unglaublich kreative Stadt, die nach ihren eigenen Regeln spielt“ gepriesen. Neben den günstigen Lebenshaltungskosten, dem öffentlichen Nahverkehr und der 103-Bar in der Kastanienallee lobte Nylon vor allem die jungen innovativen Modelabel der Stadt. Dies mag auch das Interesse der Einkäufer der japanischen Street-Couture-Boutique Sympathy Q geweckt haben, die sich entschlossen, in ihrem Tokioter Flagship-Store bis Ende Juni ausgewählte Berliner Designer zu präsentieren: ADD, Chicks on Speed, Sandra Ernst und andere. „Berlin“, so Chefeinkäuferin Nicole Bargwanna von Sympathy Q, „hat immer noch ein enormes Potenzial“.
Immer noch? Schon wieder? Während hierzulande eine gewisse Berlinmüdigkeit zu verzeichnen ist, scheint das in New York und jetzt auch in Tokio anders gesehen zu werden. Als „eine Mischung aus Ironie und Ausdrucksstärke“ beschreibt Bargwanna diese ungebrochene Anziehungskraft der Stadt.
Kaum ein Modemarkt ist so überdreht wie der Tokios. Die Geschäfte sind sieben Tage die Woche bis in die Abendstunden geöffnet, die Sortimente wechseln in atemberaubender Geschwindigkeit. Japanische Konsumenten lieben das Neue und sind gegenüber westlichen Einflüssen sehr aufgeschlossen. Jeder etablierte Designer aus der westlichen Welt hat eine Filiale in Tokio. Da bedarf es schon einer guten Idee, um als Modehaus auf sich aufmerksam zu machen.
Sympathy Q ist ein Modehaus, das für „Tokyo Street Fashion“ steht, diese ganz besondere Shopping-Atmosphäre in Stadtteilen mit einer hohen Konzentration von kleinen, exklusiven Boutiquen. Da sich auch Tokio regelmäßig neu erfindet, Stadtteile sich schneller verändern als in europäischen Metropolen, konzentriert sich „Tokio Street Fashion“ jedes Jahr woanders. 2003 ist es eine Gegend zwischen den Stadtteilen Daikanyama und Ebisu, die sich Ebisu-Nishi nennt: Eine mondäne innerstädtische Wohngegend, die mehr und mehr von Boutiquen, Büros und Restaurants dominiert wird. Eine Gegend aber auch, in der wie so oft in den Seitenstraßen Tokios die Straßenverkehrsordnung außer Kraft gesetzt ist; rollende und parkende Autos, Strommasten, Blumentöpfe, Werbeschilder, Anwohner und Geschäftsleute müssen sich eine vier Meter breite Fahrbahn ohne Gehsteig teilen. Am Wochenende flanieren hier die Young Urban Professionals, jeder mit einem kleinen Einkaufstragetäschchen eines führenden Herren- oder Damenausstatters in der Hand. Anders als in Deutschland ist trotz oder vielleicht gerade wegen der anhaltenden Wirtschaftskrise das Konsumverhalten der Japaner stabil. Shopping ist Teil der täglichen Routine. „Vor allem junge Damen mit Style, Geschmack und Interesse an dem etwas anderen“, umschreibt Nicole Bargwanna die Zielgruppe von Sympathy Q: „Man trifft hier niemanden, der noch die Klamotten vom letzten Jahr anhat.“
Bei der in Kooperation mit der japanischen Ausgabe des Lifestylemagazins Dazed & Confused veranstalteten Eröffnungsparty des neuen, 370 qm großen Stores ließ man es sich dann auch offensichtlich gut gehen. Champagner wurde in handlichen 0,2-Fläschchen gereicht, Riesenerdbeeren zum Verzehr angeboten und Alex Murray-Leslie von Chicks on Speed legte Electroclash auf.
Der „Berlin Concept Space“ im Eingangsbereich des zweistöckigen Ladens stellt neben Mode altes Berliner Porzellan, Parfümflaschen von Harry Lehmann, Bürsten aus dem Blindeninstitut und Erich-Hamann-Schokolade aus Wilmersdorf in Schaukästen aus. Nicole Bargwanna: „Wir wollten einen authentischen Eindruck von Berlin vermitteln, auch für Leute, die noch nie dort waren.“ Die Eröffnung der Berlin-Abteilung in Sympathy Q hat in Japan für Furore gesorgt: Die japanischen Zeitschriften So-En und Olive haben bereits mit großen Berichten über Berlin nachgezogen. Dies liegt vor allem am Berliner Faible für Improvisation, das sich auch in den Kollektionen der Modedesigner Chicks on Speed, ADD und Sandra Ernst ausdrückt. Obwohl die verschiedenen Linien klar erkennbar sind, fällt der verstärkte Hang zur Handarbeit und Fertigung von Einzelstücken auf. So verwendet ADD in ihrer aktuellen Kollektion „Vincent“ an die achtziger Jahre erinnernde Schnitte mit applizierten Stofffotografien – eine Spielerei mit Identitäten und Stardom, Erinnerung und wie sie über Kleidung transportiert werden kann.
Das Gesamtkunstwerk Chicks on Speed, mittlerweile eher bekannt durch musikalische Umtriebe, vereint Clubwear und Popart-Tradition, indem es Schriftzüge bekannter Unternehmen collagenhaft auf ihre Stoffe druckt, eine Art Parodie auf Werbebotschaften und Zeitungsschlagzeilen. Sandra Ernst mit ihren Nadelarbeiten steht für eine improvisierte, aber nicht beliebige Herangehensweise an das Modebusiness. So verengt sie die Schnitte von Damenunterkleidern aus den 20er-Jahren. Sie beschreibt das Konzept, mit der Hand vorgefundene Stücke zu verändern, als „Prozess, der das Schöne erst sichtbar macht“. Oft liegen ihre Arbeiten nur in geringer Anzahl vor, manche sind gar Unikate.
Im Moment scheinen Berliner Modedesigner in Tokio sogar mehr Aufmerksamkeit zu erfahren als in ihrer Heimatstadt Pleiten-Berlin. Orientierten sich die trendbewussten Japaner bisher vor allem an Mailand, Paris und London, ist nun, dank Sympathy Q, Berlin ein wenig mehr ins Blickfeld geraten. Vielleicht wird über den Umweg Japan ein neues Selbstbewusstsein nach Berlin reimportiert.