: Berlin bebt – Brüssel wackelt
Die Ankündigung von Neuwahlen in Deutschland erschwert die aktuellen Entscheidungen der EU. Einigung über Finanzplanung rückt in weite Ferne
AUS BRÜSSELDANIELA WEINGÄRTNER
Am Tag zwei nach dem Berliner Erdbeben war in der Europäischen Union gestern Pfeifen im Wald angesagt. Der ehemalige Europaminister Pierre Moscovici betonte in Le Monde, die verlorene NRW-Wahl werde auf das Referendum zur EU-Verfassung am nächsten Sonntag in Frankreich keinen negativen Einfluss haben. Dennoch werden Verfassungsbefürworter sowohl aus Kreisen der linken Opposition als auch aus dem konservativen Regierungslager erleichtert aufatmen, dass in dieser Woche fast keine Solidaritätsbesuche von deutschen Spitzenpolitikern mehr angekündigt sind. Der Misserfolg könnte ja ansteckend wirken.
Lehnen die Franzosen am Sonntag die EU-Verfassung ab, ist ihr Staatspräsident Jacques Chirac ebenso angezählt wie sein sozialdemokratischer Freund Gerhard Schröder. Danach würde der deutsch-französische Motor nicht länger stottern, er wäre abgewürgt. Das bedeutet nicht nur, dass die Chance auf eine EU-Reform vertan ist, die das erweiterte Europa wieder regierbar machen würde. Auch das nächste große Beitrittsprojekt wäre in Gefahr. Ankara müsste sich darauf einstellen, dass der Beitrittsprozess sich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag hinziehen kann.
Zum Ersten werden in Frankreich und den Niederlanden die Debatte um die Verfassung und die Debatte um den Türkeibeitritt vermischt. Viele Wähler, die die Verfassung ablehnen, wollen damit eigentlich ihren Unwillen gegen das Erweiterungstempo zum Ausdruck bringen. Je mehr Neinstimmen zusammenkommen, desto mehr Türkeiopposition lässt sich daraus ablesen. Zum Zweiten haben CDU und CSU bereits angekündigt, das Türkeithema im Wahlkampf aufzugreifen. Matthias Wissmann verlangte gestern, die Bundesregierung dürfe nach der Sommerpause den Verhandlungsfahrplan der EU-Kommission nicht absegnen. Dafür fehle ihr so kurz vor der Wahl die Legitimation.
Im Dezember auf dem EU-Gipfel in Brüssel haben die Staats- und Regierungschefs einstimmig beschlossen, am dritten Oktober 2005 mit den Verhandlungen zu beginnen. Zunächst aber muss die EU-Kommission einen Verhandlungsfahrplan vorlegen, der wiederum einstimmig vom Rat genehmigt werden muss. Eine Sprecherin von Erweiterungskommissar Olli Rehn bestätigte gestern, Ankara müsse noch sechs Gesetzespakete verabschieden und durch Unterzeichnung eines Protokolls de facto die Republik Zypern anerkennen. Dann könnten die Verhandlungen planmäßig beginnen. Macht Deutschland aber tatsächlich von seinem Veto Gebrauch, kommen die Neuwahlen dazwischen und Angela Merkel hat vielleicht in der Türkeifrage das letzte Wort.
Äußerlich ungerührt von den Turbulenzen zeigt sich bislang die Luxemburger Ratspräsidentschaft. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn kündigte für den 12. Juni ein weiteres Konklave mit seinen Kollegen über die Finanzplanung der EU an. Was er sich davon verspricht, ist unklar. Mit dem jüngsten Kompromissvorschlag vom 19. Mai waren die Minister am Sonntag so unzufrieden, dass sie im Streit auseinander gingen. Die Vorstellung, der Außenminister auf Abruf, Joschka Fischer, würde beim nächsten Treffen von der deutschen Linie abweichen und sich bereit erklären, mehr als ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts nach Brüssel abzuführen, ist absurd. Das Letzte was Rot-Grün im Wahlkampf gebrauchen kann, ist eine Nettozahlerdebatte.
Ein politisches Erdbeben in Berlin lässt eben auch in Brüssel die Wände wackeln. Wenn die Regierung des größten Mitgliedslandes und Beitragszahlers ihren Bürgern die Vertrauensfrage stellt, hat das natürlich Auswirkungen auf die Entscheidungen auf europäischer Ebene. Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker muss sein ehrgeiziges Ziel, bis zum Junigipfel eine Grundsatzeinigung in der Finanzplanung zu erreichen, wohl endgültig begraben. Denn eine Regierung auf Abruf kann nicht die EU-Beiträge ihres Landes bis 2013 festlegen. Schröders Verhandlungsspielraum im Finanzpoker ist mit der Entscheidung für Neuwahlen auf Null geschrumpft. Kompromissbereitschaft kann er sich nicht erlauben. Zu Hause im Wahlkampf würden CDU und FDP sofort die Nettozahlerkeule schwingen.
Von den anderen europäischen Regierungen kann die Bundesregierung in dieser schwierigen Lage kein Mitgefühl erwarten. Die stehen zu Hause selbst unter Erfolgsdruck. So hatte Großbritanniens Finanzminister Gordon Brown schon am Sonntag erklärt, der 1984 von Thatcher ausgehandelte Briten-Rabatt dürfe nicht angetastet werden. Notfalls werde London von seinem Vetorecht Gebrauch machen. Spanien und Portugal wiederum wollen keine Kürzungen bei ihren Strukturbeihilfen zugunsten der ärmeren neuen Mitgliedstaaten akzeptieren
Eine neue Bundesregierung kann diesen gordischen Knoten mit einem großzügigen Finanzangebot vielleicht durchschlagen. Dann allerdings ist die neutrale Luxemburger Präsidentschaft, der man den schwierigen Interessenausgleich zugetraut hätte, längst vorbei. Ab Juli führt Großbritannien die EU-Geschäfte und kann den Briten-Rabatt zur Chefsache machen. Ob sich daran Kanzler Schröder oder Kanzlerin Merkel die Zähne ausbeißt, macht in der Sache keinen Unterschied. Die von europäischer Strukturförderung abhängigen Projekte werden sicher auf Eis gelegt. Da niemand weiß, wie viel Geld für welche Vorhaben eingeplant werden kann, zeichnet sich eine Planungslücke von zwei Jahren jetzt schon ab.