Berlin Festival 2012: Die Welt ist schon ganz geil
Beim Berlin Festival gab es entspannte Besucher und gewaltigen Durst. Bis auf Tocotronic kamen viele Musiker ohne große Botschaften.
„I love Edinburgh“, „Asta Marburg“, „Denken heißt überschreiten – Ernst Bloch“, „Fulda is for lovers“, „Rijkaard Jugend: Love Football – Hate Germany“. Den Slogans auf den Stoff-Umhängetaschen nach zu schließen, befindet sich schlauer Nachwuchs aus nah und fern auf dem Gelände des Flughafens Tempelhof in Berlin. Junge Frauen mit strassgepunkteten Sweatshirts und aufgeklebten Bärten. Vollbärtige Männer in stecknadeldürren Röhrenjeans. Modemäßig sei sie nicht inspiriert worden, wie eine Freundin meinte.
Menschen haben Tetrapak-Fruchtsäfte mit Gaffa-Tape als Gurt an ihren Körpern befestigt. Es ist gestattet, diese Behältnisse mit aufs Festivalgelände zu nehmen. Verboten sind dagegen Flaschen und „menschenverachtende, rassistische, homophobe Kleidung und Einstellung“, wie in der Präambel des Festivalprogramms steht, das allen Besuchern ausgehändigt wird. Geschätzte 18.000 Zuschauer sind freundlich entspannt.
Ständig wirft jemand Konfetti in die Luft, regelmäßig steigen Seifenblasen auf. Das überträgt sich etwa am Freitag beim Konzert des jungen britischen Soulsängers Michael Kiwanuka und seiner fünfköpfigen Band, mit der er die „goldenen“ siebziger Jahre und ihre Stars Bill Withers oder Bobby Womack fast baugleich melancholisch wiederauferstehen lässt. Man weiß nur nicht, ob jenseits des nonchalant Vorgetragenen noch eine Botschaft steckt.
Vielleicht geht es genau darum, an einer Großveranstaltung wie dem Berlin Festival keine parat zu haben. Folgt man dem gefeierten Rapper Cro am Samstag mit seinem Song „Die Welt ist geil“, ist alles okay: „Denn ich habe alles was ich brauch/ Ich will hier nie wieder raus/ Solang ich hier bin mach ich das Beste draus“, deklamiert er und verhält sich damit zu HipHop wie Karl May zu Amerika.
Bierumsatz von 5.400 Euro
Ein Animateur auf einem Kreuzfahrtschiff ist nichts gegen den Stuttgarter, der sein Publikum unangenehm zwischen jedem Song bekniet, in die Hände zu klatschen. Er appelliert an das große Bedürfnis, mit vielen anderen gemeinsam zur Musik zu feiern. Der Durst ist gewaltig: René, ein 22-jähriger mobiler Bierverkäufer, der ein 30-Liter-Fass auf dem Rücken trägt, wird am Freitag in acht Stunden den Inhalt von 16 Fässern los.
Bei 4,50 Euro pro 0,4 Becher gelingt ihm ein Umsatz von circa 5.400 Euro. Gedränge wie in den vergangenen Jahren entsteht nicht. Schlangen gibt es nur vor dem Geldautomaten auf dem Festivalgelände. Zwischen den vier Bühnen, auf denen zeitgleich Konzerte stattfinden, ist ein Jahrmarkt mit Fressbuden, Merchandising-Ständen, Rodeo-Automat, Autoscooter und Bolzplatz.
Es ist für alles gesorgt: Am Autoscooter legen lokale DJs auf. Auf einem Art-Village entsteht Streetart in Echtzeit, und ein Poetry-Slam-Zelt soll das Kontemplative eingemeinden. Die Community darf alles. Das zeigt eine Debatte, die am Samstagnachmittag inmitten der Konzerte stattfindet. Björn Böhning (SPD), Chef der Senatskanzlei, richtet Grüße „von Wowi“ aus, der verhindert ist, „weil ein Flughafen schon genug sei“.
Gema-Debatte
Dann fordert er angemessene Vergütung für Künstler und gibt das Mikrofon weiter an den Musiker Johnny Häusler, Tim Renner von Motor Entertainment, Bruno Kramm von den Piraten und Reinher Karl, dem Justitiar des Verbandes unabhängiger Tonträgerhersteller. Sie debattieren über illegale Downloads und die Verteilungsgerechtigkeit der Gema.
Die Künstler selber, etwa Tocotronic, lassen durch ihren Manager Stephan Rath der Runde per Videobotschaft ausrichten, sie hätten zu diesen Themen nichts mehr zu sagen. Das Konzert von Tocotronic ist dann einer der Höhepunkte der beiden Tage. Als Dirk von Lowtzow den alten Song „Sie wollen uns erzählen“ mit den Worten einleitet „ein Lied gegen die reaktionären Kräfte“, ist die Melancholie des Spätsommers wie weggeblasen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren