■ Berlin: Das große Leiden an der Umleitung: Schienenersatzverkehr
In Berlin gibt es eine einzigartige Einrichtung: Schienenersatzverkehr! Nun gut, Schienenersatzverkehr gibt es überall, aber das ist etwas ganz anderes. In normalen Großstädten dient der Schienenersatzverkehr dazu, Fahrgäste von S- oder U-Bahn auf vorübergehend stillgelegten Strecken mit Hilfe von Bussen zügig an ihr Ziel zu befördern. In Berlin dient der Schienenersatzverkehr dazu, Menschen zu quälen, ihnen das Benutzen der öffentlichen Verkehrsmittel gründlichst zu vergällen und sie an das Steuer luftverpestender Kraftfahrzeuge zu treiben.
Steigt jemand zum Beispiel des Nachts zwischen zwölf und halb eins – eine Zeit, zu der etwa alle 20 Minuten eine U-Bahn ankommt – am vorübergehenden Endbahnhof aus, dann wäre es überall sonst auf der Welt so, daß zwei bis drei Busse bereitstehen würden, um die Fahrgäste umgehend weiterzubefördern.
Nicht so in Berlin. Dort erblickt der zur Haltestelle strebende Mensch in respektvoller Entfernung einen einzigen abgedunkelten Bus, der aber nicht die geringsten Anstalten macht, sich in Bewegung zu setzen. Düster steht er da, feindselig und abweisend, nichts rührt sich. Es scheint fast, als würde er die wartenden Leute mit einem gewissen hämischen Vergnügen beobachten, das um so größer ist, wenn es in Strömen regnet. An der Haltestelle des Schienenersatzverkehrs gibt es nämlich nur einen winzigen Unterstand, der sehr wenigen Personen Schutz bietet. Die anderen werden patschnaß.
Das gefällt dem Bus, und er bleibt erst recht stehen. Es vergehen 5, 10, 15 Minuten – nichts passiert, außer daß die Gewaltbereitschaft der Menge unaufhörlich steigt. Dann erscheint ein zweiter abgedunkelter Bus auf der Bildfläche und gesellt sich dem ersten hinzu. Langsam wird die Gefahr groß, daß alsbald wieder eine U-Bahn anrückt, deren Benutzer dann möglicherweise fahrbereite Busse vorfinden könnten. Also setzen sich die beiden Gefährte sichtlich widerwillig in Bewegung, laden die triefenden Fahrgäste ein und fahren ab, während im U-Bahnhof gerade der nächste Zug ankommt. Diesem entsteigen Menschen, die nicht schlecht staunen, als sie bei der Haltestelle eintreffen. Sie werden nicht mal von einem abgedunkelten Bus erwartet. Symptomatisch der Stoßseufzer eines so umgeleiteten Berlin- Touristen, der nach einem Großereignis im Olympiastadion versuchte, Kreuzberg zu erreichen: „Wäre ich nach Westen gefahren statt nach Osten, wäre ich jetzt in Bielefeld.“
Heiß diskutiert wird in der Hauptstadt neuerdings die Frage, ob derartige Zustände purer Inkompetenz geschuldet sind oder eher böser Absicht. Gewisse Verschwörungstheoretiker schwören Stein und Bein, daß es bei der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG) geheime Planstellen gibt, deren Inhaber einzig und allein die Aufgabe haben, Wege zu ersinnen, wie man jegliche Effizienz von Grund auf beseitigen und die Passagiere in den Wahnsinn treiben kann. Es wird sogar gemunkelt, daß eine Arbeitsgruppe gebildet wurde, die mit modernsten wissenschaftlichen Methoden eine Pessimierung des Fahrplans anstrebt. Idealziel der Forschungsgruppe sei es, einen Fahrplan zu erstellen, der so beschaffen ist, daß jeder Fahrgast jeden Anschluß um haargenau 10 Sekunden verpaßt. Die tägliche Praxis zeigt, daß längst schöne Erfolge auf diesem Gebiet erzielt wurden.
Aber das ist natürlich alles Unsinn. Die Wahrheit ist erheblich simpler. Schienenersatzverkehr – das ist schlicht und einfach das Prinzip, nach dem Berlin funktioniert. Und zwar seit vielen Jahren. Matti Lieske
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