Berichterstattung über Boston: Die kaputten „Breaking News“
Die US-Fernsehmedien überschlugen sich mit aktueller Berichterstattung über den Bostoner Bombenanschlag. Das Ergebnis: jede Menge Fehler.
Blinkende „Breaking News“-Banderolen flimmerten am Freitag den ganzen Tag über die Bildschirme in den USA – begleitet von der hektischen Berichterstattung von US-Nachrichtensendungen über die Fahndung in Boston. Einen Tag lang „Manhunt“ – Zehntausende Polizisten suchten nach dem flüchtigen Verdächtigen, der am Montag zuvor die Anschläge auf den Bostoner Marathon verübt haben soll. Immer wieder wurden neue Entwicklungen verkündet – nur um diese dann rasch wieder zurücknehmen zu müssen.
Da wurde im Eifer des Gefechts aus Tschetschenien schon einmal der Balkan. Da kursierten Berichte darüber, die tatverdächtigen Brüder hätten einen Supermarkt überfallen – was, so die Blitzanalyse der TV-Journalisten, für eine schlechte Planung der Tat spreche. Wenige Stunden später rückte die Polizei gerade: Stimmt nicht, die Brüder hätten mit dem Überfall auf den Supermarkt nichts zu tun.
Auch Berichte über die Automarken, mit denen der jüngere Bruder sich auf der Flucht befinden sollte, und darüber, dass dieser den verletzten älteren mit einem Auto überfahren habe, um zu entkommen, wurden über den Tag verteilt auf zahlreichen Sendern verbreitet. Und erwiesen sich erst als falsch, als die Polizei bei einer Konferenz um 17 Uhr verkündete, der Verdächtige befinde sich zu Fuß auf der Flucht.
Den ärgsten Schnitzer hatte sich allerdings der Nachrichtensender CNN geleistet: Um kurz vor zwei Uhr berichtete deren Korrespondent fälschlicherweise, dass ein Verdächtiger inhaftiert worden sei, ein „dunkelhäutiger“, wie es später hieß. Auch das eine Meldung, die man als Erster verkünden wollte – zu Lasten ihrer Richtigkeit.
„Das Chaos ist die Berichterstattung“
http://edition.cnn.com/Ein Schlag für CNN, den Sender, der im zunehmend polarisierten Meinungskampf zwischen konservativen Sendern wie Fox News und MSNBC, dem immer wieder liberale Tendenzen vorgeworfen werden, immer als Quelle für verlässliche neutrale Nachrichten galt. Und der nach empfindlichen Quotenrückgängen mitten in einem Reformprozess steckt.
„Das Chaos der Breaking News ist nicht mehr etwas, woraus Berichterstattung entsteht – es ist die Berichterstattung“, analysierte bereits am Mittwoch unter dem Eindruck der Eilmeldungswellen nach dem Bombenanschlag ein Autor auf poynter.org, der Seite eines renommierten Journalisteninstituts. Das Onlinemagazin Slate.com ging am Freitagmittag sogar einen Schritt weiter: „Breaking News is broken“ – „Eilmeldungen sind kaputt“, titelte es – und empfahl, erst einmal den Fernseher und die Twitter-App auf dem Smartphone auszuschalten, wenn ein aktuelles Großereignis geschieht.
Denn sowohl Twitter als auch CNN würden sich heutzutage auf Technologien verlassen, die zu nah an den aktuellen Ereignissen dran sind. Und darum die Lücke zwischen Fakten und Verständnis zu schnell mit Spekulationen füllen.
Tatsächlich ist die Echtzeit-Berichterstattung über aktuelle Großereignisse in Zeiten sozialer Medien eher schwieriger als einfacher geworden: Journalisten, die vor laufender Kamera auf Smartphones starren, haben noch weniger Zeit für Analyse und Verifikation. Und der Konkurrenzdruck, der Schnellste zu sein, ist hoch. So hoch, dass es sogar eigene Meldungen wert ist, dass es am Ende NBC war, die als Erste über die tatsächliche Inhaftierung von Dzhokar Tsarnaev am Freitagabend berichtete.
Virtueller Pranger
Eine Tatsache, der sich selbst US-Präsident Obama widmete: Er fand mahnende Worte für die US-Medien: „In einem Zeitalter von unmittelbarer Berichterstattung, von Tweets und Blogs gibt es die Versuchung, an jedes bisschen Information anzudocken.“ Doch wenn eine Tragödie wie diese passiere, sei es wichtig, es korrekt zu tun.
Und so läuft nun die Debatte über die Ad-Hoc-Großereignisse nach den Ereignissen der vergangenen Woche in den USA auf Hochtouren. Bezüglich der Fernsehsender, Twitter und der Echtzeitberichterstattung – aber auch bezüglich des virtuellen Prangers und der Hexenjagd beim Dienst Reddit, in dem öffentlich zur Suche nach den Verursachern des Bostoner Bombenanschlags aufgerufen wurde und zahlreiche Unschuldige in Verruf gebracht worden waren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär