piwik no script img

Bei schönstem Frühlingswetter nach BirkenwerderTag der offenen Tür

Ausgehen und Rumstehen

von Detlef Kuhlbrodt

Es ist Freitag. Passend zum Frühling finde ich einen kleinen Baum mit kleinen orangefarbenen Früchten auf der Straße. Ich nehme ihn mit, stell ihn auf den Balkon in die Sonne und abends gibt es im Fernsehen wieder die lustige Werbung mit den netten Firmenmitarbeitern. Leider greife ich zu spät zum Stift und weiß jetzt nicht, wie es richtig heißt: Lahmlegerfluffi oder Vielleichtfluffi? Egal. Beides gut.

Am nächsten Morgen ruft B. an. Ich dachte, er wäre noch im Urban. Er ist nun aber in einer Klinik in Birkenwerder. Dort hätten sie seine Venen (glaube ich) untersucht. Der Arzt habe dann gesagt: „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute: Ihre Venen sind in Ordnung. Die schlechte: Deshalb können wir nichts machen.“ Vor allem die Füße wären das Problem und zuvor nicht korrekt behandelt worden.

In dieser Klinik in Birkenwerder sei es schöner als im Pflegeheim. Ein netter dicker bäuerlicher Mann sei auch im Zimmer und gestern wäre die ganze Familie da gewesen und alle hätten nur dummes Zeug geredet. Außerdem würde er gerade das Buch „Schweine mit Flügeln lesen“. In jeder linken WG der 1970er Jahre hätte es das Buch „Schweine mit Flügeln“ gegeben. Ein fiktives Tagebuch, in dem ein Mädchen und ein Junge ihre sexuellen Erfahrungen beschreiben. Ihn hätte überrascht, dass es vor allem ums „Arschficken“ in dem Buch geht, ich wundere mich, dass er ein vor 41 Jahren erschienenes Jugendbuch noch einmal liest. Er fragt, ob ich nicht Lust hätte, ihn in Birkenwerder zu besuchen; ich sage „vielleicht“ und bin fast überrascht, eine Stunde später in der S-Bahn zu sitzen. Die Fahrt ist sehr schön. Ich lese in einem Buch von Jochen Schimmang. Es heißt „Das Beste, was wir hatten“ und entwirft das Bild der Bonner Republik als Utopie. Sein neues Buch ist noch besser.

Auch in Birkenwerder scheint die Sonne. Der Weg zur Klinik ist schnell gefunden. Von Weitem schon hört man Musik. Der Diskotheker heißt, glaube ich, „Gary“. Mit einem Tag der offenen Tür bemüht sich die auf Diabetes spezialisierte Klinik um neue Kunden.

G. sitzt in einem offenen Aufenthaltsraum in einem Ledersessel an einem Tischchen und liest Zeitung. Es gibt Kaffee für 50 Cent, eine schattige Aussicht aufs Gelände mit Gras und Bäumen und einen anderen Patienten, der in einem Krimi liest. Sein graublaues Gesicht erinnert an das von Michel Houellebecq. Eigentlich guckt er, glaube ich, auch nur in sein Buch und blättert nie um.

Es ist eine große Freude, zusammen schweigend Zeitungen zu lesen

Wir reden eine Weile über die üblichen Dinge; Fußball, Zeitungen und andere Krankheiten. B. sieht besser aus. Sein Gesicht, das durch den Alk geschwollen war, ist nun wieder schmaler. Seine Kleidung – eine blaue Hose und ein blaues Hemd, steht ihm gut. Erst später fällt mir ein, dass er eventuell in einem Schlafanzug dagesessen haben könnte. Zum Glück müssen seine Füße nun wohl doch nicht abgeschnitten werden.

Wir lesen Zeitung; die taz, die B.Z., die Zeit und die Berliner Zeitung. B. erklärt, dass ihn die Zeit total abstoßen würde mit ihren schwachsinnigen Besinnungsaufsätzen. Ich freue mich an einem schönen Kretschmann-Zitat aus der taz: „Und ich persönlich will nicht, dass Heroinfabriken hier gebaut werden, auch wenn die was zum Bruttoinlandsprodukt beitragen könnten.“

Es ist eine große Freude, zusammen schweigend Zeitungen zu lesen. Manchmal reden wir zwei Sätze und lesen dann weiter, anderthalb Stunden; dann muss ich wieder gehen, esse draußen noch ein Würstchen zwischen den Ständen, an denen man zum Beispiel seinen Blutzucker messen lassen kann.

Der nächste Tag ist auch ganz gut, der Frühling ist schön, nur vor dem Karneval der Kulturen graut mir ein bisschen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen