: „Bei den Bayern abgucken“
2006 zelebriert sich Nordrhein-Westfalen selbst. Für den Bochumer Historiker Dietmar Petzina hat das größte Bundesland durchaus Grund, seinen 60. Geburtstag gebührend zu feiern
INTERVIEW: MARTIN TEIGELER
taz: Die Landesregierung feiert 60 Jahre NRW unter dem Motto „Land der Zukunft“. Aber hat NRW seine beste Zeit nicht hinter sich?Dietmar Petzina: Nein, ich sehe das nicht so. Das Land hatte einen Durchhänger, es hat zu lange einen nostalgischen Blick nach hinten gerichtet. Dies ist erklärbar mit den langwierigen Probleme der Strukturkrise im Ruhrgebiet. Ich würde prognostizieren, dass Standortgunst in der EU und wissenschaftliche Potenziale das Land befähigen, in der Zukunft wieder eine ganz wichtige Rolle zu spielen.
Ist NRW noch das wichtigste Bundesland?Nordrhein-Westfalen ist nicht nur quantitativ das bedeutendste Land, sondern auch das Land mit den meisten Hochschulen und Konzernzentralen und dem weitaus größten Sozialprodukt. Ja, es ist immer noch das wichtigste Land, wenngleich andere aufgeholt haben.
Wirtschaftlich hinkt NRW dem Bundesschnitt hinterher.Das ist richtig im Vergleich zu den süddeutschen Ländern. Dennoch bin ich optimistisch: Der Strukturwandel im Ruhrgebiet ist im wesentlichen bewältigt, die ehemalige Montanregion ist dabei, eine international konkurrenzfähige Hightech-, Dienstleistungs- und Wissenschaftsregion zu werden. Damit fällt der entscheidende Bremsklotz weg, der das Land in den 1970er und 1980er Jahren so sehr belastet hat. Im Ergebnis wird sich die Entwicklung im gesamten Land wieder beschleunigen. Freilich muss man realistischerweise hinzufügen, dass Bayern und Baden-Württemberg nicht so einfach einzuholen sind.
War es 1946 eine gute Idee der Briten, die preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen zusammenzulegen?Das war eine gute Idee und vor allem eine zwingend notwendige Idee, die allerdings auch stark von Deutschen, vor allem [vom späteren CDU-Ministerpräsident] Karl Arnold, beeinflusst wurde. Anders hätte man das ja damals heiß umstrittene Ruhrgebiet überhaupt nicht einhegen können. NRW ist eigentlich um das Ruhrgebiet entstanden – eine Kopfgeburt aus militär- und politstrategischen Erwägungen. Die Kopfgeburt hat sich bewährt, ist zum Leben erwacht. Heute spielt die Frage, ob man Rheinländer oder Westfale ist, nur noch beim Karneval und an den Kneipentheken eine Rolle, aber nicht mehr in der Realität.
Wie war das 1946?Die Rivalität war natürlich da, genauso gab es erhebliche Unterschiede. Westfalen war durch die Schwerindustrie im Ruhrgebiet und den agrarischen Ostteil geprägt, während die Rheinschiene bereits vor dem Zweiten Weltkrieg von großen Handels- und Verwaltungszentren wie Düsseldorf oder Köln mit ausgeprägtem historischen Selbstbewusstsein geprägt war. Das hat zunächst auch zu unübersehbaren psychologischen Ungleichgewichten geführt. Inzwischen hat sich jedoch sowohl im Entwicklungstempo wie in der sozialen Realität eine deutliche Annäherung ergeben. Freilich ist das Rheinland bis heute der wirtschaftlich und sozial dynamischere Raum geblieben.
Auch politisch? Die Landeshauptstadt ist Düsseldorf, die meisten Ministerpräsidenten waren keine Westfalen.Wenn man die geographische Herkunft zugrunde legt, haben Sie Recht. Auf der anderen Seite sollte man nicht unterschätzen, dass es besonders innerhalb der Sozialdemokratie immer einen sehr dominanten westfälischen Teil gegeben hat. Ohne die Einwilligung des einstigen SPD-Bezirks Westliches Westfalen ist in Düsseldorf jahrzehntelang politisch nichts gelaufen. Zwar ist richtig: das Rheinland hat mit Karl Arnold, Franz Meyers, Heinz Kühn und Johannes Rau wichtige Ministerpräsidenten gestellt, doch haben sie sich immer für das Land insgesamt verantwortlich gefühlt.
Welcher NRW-Ministerpräsident hat das Land am stärksten geprägt?Alles in allem kommt Johannes Rau dieses Verdienst zu – nicht nur, aber auch wegen der schieren Regierungszeit von 20 Jahren. Rau hat eine wesentliche Rolle bei der Integration der beiden Landesteile gespielt. Aber auch Karl Arnold wäre zu nennen. Ihm ist es, wie erwähnt, wesentlich zu verdanken, dass das Land überhaupt in der uns heute vertrauten Form entstehen konnte – schließlich wollten die Alliierten das Ruhrgebiet unter internationale Kontrolle stellen. Also Rau auf Platz eins, Arnold auf zwei.
Die SPD hat NRW Jahrzehnte regiert. CDU-Regierungschef Rüttgers steht in der Tradition des linken Christdemokraten Arnold. Ist NRW ein sozialdemokratisches Land?Wenn wir es nicht im engeren parteipolitischen Sinn verstehen, ist das so. NRW war über Jahrzehnte hinweg das Labor des sozialen Ausgleichs für die alte BRD. Das Modell des rheinischen Kapitalismus, dem wir ja heute nachtrauern, wäre ohne NRW nicht vorstellbar gewesen. In der Praxis hat die soziale Marktwirtschaft und eine vom gesellschaftlichen Konsens geprägte Gesellschaft erst durch den historischen Kompromiss von Kapital und Arbeit in NRW Gestalt angenommen.
Das Landesjubiläum wird 2006 groß gefeiert. Braucht das Land von der Regierung organisierte Feiern?In ihrer Frage steckt ein versteckter Vorwurf, als ob so etwas unanständig sei. Das ist typisch für Nordrhein-Westfalen. In Bayern wäre das überhaupt keine Frage. Dort feiert man sich permanent selbst, mit großem Selbstbewusstsein. Davon könnte sich NRW ein wenig abgucken. Die 60 Jahre waren insgesamt eine Erfolgsgeschichte, die wir der nächsten Generation auch selbstbewusst erzählen sollten.