Behinderten-Sexualassistentin de Vries: "Die sind ja eigentlich so wie ich"
Es ist etwas ganz Natürliches - und ein Tabu: Auch behinderte Menschen haben Lust. Die Sexualassistentin Nina de Vries spricht über ihre Arbeit mit Behinderten.
taz: Frau de Vries, Sie arbeiten seit 13 Jahren als Sexualassistentin. Wie sind Sie dazu gekommen?
Nina de Vries: Ich habe mit erotischen Massagen angefangen, Tantramassagen für ganz "normale" Leute. Da kamen dann aber irgendwann auch Anfragen von Körperbehinderten, und für mich war das nichts Besonderes oder Spektakuläres. Ich habe einfach gemerkt, dass das für mich interessanter ist. Mittlerweile arbeite ich hauptsächlich mit Menschen, die schwere geistige Behinderungen haben.
Nina de Vries wurde 1961 in Holland geboren und absolvierte dort neben einer Massage- auch eine therapeutische Ausbildung. 1990 zog de Vries nach Berlin, arbeitete zunächst als Künstlerin, 1992 für ein Jahr als Erzieherin in einem Rehabilitationszentrum. Dort machte sie erstmals intensivere Erfahrungen in der Arbeit mit Behinderten. Seit 13 Jahren bietet sie sexuelle Dienstleistungen für behinderte Männer und Frauen an, Geschlechts- und Oralverkehr gehören nicht zu ihrem Angebot. 2002 bildete sie am Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter (ISBB) erstmals SexualbegleiterInnen aus. Seitdem hält sie Vorträge und Workshops in Deutschland, Österreich und der Schweiz und hatte bereits Lehraufträge an der Fachhochschule Potsdam und der Universität in Bologna. Nina de Vries lebt heute in Potsdam.
Die Idee: Heute ist Weltbehindertentag. Die Vereinten Nationen haben diesen Gedenktag 1992 ins Leben gerufen, um auf die Rechte, aber auch auf immer noch bestehende Benachteiligungen von Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen aufmerksam zu machen.
Die Ziele: Forderungen an die Politik sind eine rasche Umsetzung der UN-Konvention. Deutschland hat das Fakultativprotokoll der Konvention erst im März dieses Jahres ratifiziert, seitdem gilt sie verbindlich. Neben dem Recht auf Selbstbestimmung, Partizipation und Diskriminierungsschutz für Menschen mit Behinderungen enthält die Konvention die ausdrückliche Forderung nach einer barrierefreien Gesellschaft.
Sexualassistenz, ist das Therapie oder Prostitution?
Unter Prostitution verstehen Leute verschiedene Sachen, aber im Großen und Ganzen wird Prostitution in unserer Gesellschaft oft als etwas nicht sehr Schönes betrachtet, als etwas Grobes, Benutzendes. Den Begriff "Therapie" kann man leichter annehmen. Ich distanziere mich aber trotzdem nicht per se von dem Wort "Prostitution", weil ich glaube, dass es auch in der "normalen" Prostitution viele Frauen und Männer gibt, die das gern und gut machen. Bei Sexualassistenz ist aber ganz wesentlich, dass ich genau weiß, wo meine Grenzen liegen, und mich auch daran halte. Ich muss authentisch sein, also etwa sagen können, ich möchte pauschal keinen Geschlechtsverkehr anbieten.
Was also ist Sexualassistenz?
Sexualassistenz ist eine sexuelle Dienstleistung, die mit Bewusstheit ausgeführt wird. Es ist keine Therapie, denn wenn ich das behaupte, dann gehe ich über den Klienten hinweg. Ich versuche immer, zu vermitteln, dass die Klienten bestimmen, was passiert. Wenn jemand eine Stunde lang nur meine Hand auf seinem Bauch haben möchte, ist das auch okay. Für einen Autisten kann es eine Höchstleistung sein, das zuzulassen!
Kann man also sagen dass Sexualassistenz eine Dienstleistung ist, die auf einer Art Beziehungsebene stattfindet?
Für mich trifft es eher der Begriff "Begegnung": denn Beziehung ist ja oft nur eine Idee, die eigentlich bedeutet, dass ich jemanden einordne und besitzen möchte. Deshalb frage ich meine Klienten auch nie, wie es ihnen seit dem letzten Treffen ergangen ist. Das heißt aber nicht, dass deshalb Sorgfalt und Freundlichkeit keine Rolle spielen. Wichtig ist, dass so wenig Automatismen wie möglich die Begegnung bestimmen, nach dem Motto: Letztes Mal war es so und so, also wird es nun wieder so funktionieren.
Welche Rolle spielt Mitleid bei Ihrer Arbeit?
Das ist eine Falle, der man sich absolut bewusst sein sollte. Natürlich kann man nicht all sein Mitleid abstellen. Aber ich kann mich fragen: Wo fange ich an, mich einzumischen, vielleicht auch unrespektvoll zu werden? Aber Mitleid ist auch etwas Anerzogenes, gerade vor dem christlichen Hintergrund. In meiner Kindheit hießen Menschen mit Behinderung auch noch "die Unglücklichen". Bei meiner Arbeit geht es mehr um Mit-fühlen als um Mit-leiden. Bei Mit-leiden setze ich voraus, dass der andere leidet, und das kann ich gar nicht wissen letztendlich.
Wie gehen Sie mit Mitleid oder auch mit eigenen Vorurteilen um?
Ich habe eher Schwierigkeiten, mich bei Menschen mit einer Körperbehinderung normal zu verhalten. Denn die sind ja eigentlich so wie ich, nur haben sie eben einen Körper, bei dem wir alle genau wissen, wenn du in so einem Körper steckst, dann wirst du dein ganzes Leben lang mitleidig angeguckt. Mich macht das befangen, ich will dann immer alles richtig machen. Da verhalte ich mich dann eher mal unecht. Menschen mit einer geistigen Behinderung haben einfach eine so andere Wahrnehmung, dass ich da entspannter bin. Sexualassistenz geht auch schief, wenn Leute das aus einem mitleidigen Impuls heraus machen und sagen: Für diese Menschen möchte ich was tun! Das ist überheblich, und die Klienten leiden dann darunter. Aber Mitleid steckt natürlich total in uns drin, diese Gesellschaft ist geprägt von der christlichen Kirche, die ja oft auch die Pflege von Behinderten übernommen hat.
Wie ist denn in den Einrichtungen christlicher Träger der Umgang mit der Sexualität der Bewohner?
Das kann ich natürlich pauschal nicht sagen, denn dort, wo ich hinkomme, gibt es ja bereits eine gewisse Offenheit dem Thema gegenüber. Oft geht es ja einfach darum, jemandem zu zeigen, wie er masturbieren kann, weil er nicht in der Lage ist, das selbst herauszufinden. Aber es gibt auch Leute, die dir haargenau auseinandersetzen, dass Sexualassistenz eine absolut schlechte Sache ist, dass so etwas unmoralisch ist. Ich habe da eine pragmatische Einstellung. Es geht doch schließlich um Menschen, die leiden.
Das sind Vorbehalte aus christlicher Sicht. Welchen anderen Vorurteilen sehen Sie - und Ihre Klienten - sich ausgesetzt?
Da gibt es die Bewegung Emanzipierte Körperbehinderte. Die sind manchmal allergisch gegen so was wie Sexualassistenz. Für die ist das nur eine weitere Sonderregelung, die ein integriertes Zusammenleben weiter verhindert. Ich kann das auch sehr gut nachvollziehen. Aber nichts zu machen und zu warten, bis die Gesellschaft so weit ist, dass keine Sonderregelungen mehr nötig sind - dazu bin ich zu pragmatisch. Gemäß dem Normalitätsprinzip sollte das dann natürlich eine normale Prostituierte machen. Aber bei Menschen mit schweren geistigen Behinderungen halte ich es für angebracht, wenn das jemand ist, der sich damit auskennt.
Woran scheitert die Integration von Menschen mit Behinderung?
Oft fehlt einfach die Bereitschaft, anzuerkennen, dass da jemand anders ist. Das hängt mit unserem Leistungsdenken zusammen. In Italien etwa gibt es keine Sonderpädagogik, die haben das in den 70er-Jahren schon abgeschafft. Der Lehrer muss sich da eben einfach mehr einfallen lassen. Hier fehlt oft eine Bereitschaft zu Unbequemlichkeiten, man sagt dann: Schmeiß die doch alle zusammen in eine Sonderschule, das ist einfacher! Durch die Trennung wird auch eine Art Defizit erst geschaffen, da werden die einen zu hoch qualifizierten Sozialpädagogen, und die anderen haben dann die Rolle "Behinderte". Das ist dann deren Qualifikation, deren "Job"!
Menschen mit Behinderung verfügen oft nur über sehr wenig Geld, in den Behindertenwerkstätten verdienen sie kaum mehr als ein Taschengeld. Eine Stunde bei Ihnen kostet 80 Euro. Wie können Ihre Kunden das zahlen?
Ich vereinbare seit Jahren auch individuelle Preise. Eigentlich sollte es hier eine Finanzierungsregelung geben. Es geht hier um Menschen, die in allen Bereichen des Lebens Assistenz brauchen, also selbstverständlich auch in diesem Bereich. Dass es keine finanzielle Unterstützung für diese Dienstleistung gibt, erklärte mir eine SPD-Abgeordneten mal damit, dass eine öffentliche Debatte über Sexualassistenz die Intimsphäre der Betroffenen beeinträchtigen würde. Das fand ich krass, denn natürlich ist das sehr wichtig, die Intimsphäre zu respektieren. Aber ohne diese Dinge zu besprechen, ändert sich nichts. Um mit Menschen arbeiten zu können, die schwerst mehrfachbehindert sind und sich nicht verbal ausdrücken können, die aber trotzdem signalisieren, dass sie Unterstützung in dem Bereich brauchen, muss ich auch über intime Dinge sprechen, bei den Betreuern nachfragen können.
Studien belegen, dass Menschen mit Behinderung oft Opfer von Missbrauch sind, manche werden aber auch selbst zu Tätern. Kann Sexualassistenz da helfen?
Es gibt tatsächlich unglaublich viel Missbrauch von Menschen mit Behinderung. Das hat aber mit dem Umgang mit Sexualität in unserer Gesellschaft allgemein zu tun, der ja sehr verklemmt ist, dass Sexualität stark von Beziehungen abhängt. Dadurch entstehen Situationen, in denen jemand seine Machtposition ausnutzt, einfach weil er so frustriert ist. Ich arbeite öfter mit Männern und auch gelegentlich mit Frauen, die übergriffig geworden sind, und das kann eine gute Lösung darstellen.
Es sind deutlich mehr Männer als Frauen, die Sexualassistenz in Anspruch nehmen, obwohl es ja auch männliche Sexualassistenten gibt. Woran liegt das?
Frauen verbinden Sexualität schneller mit Beziehungen. Männer können nach einer Massage eher daliegen, ihre Frau anrufen und sagen, ich komme etwas später. Meiner Meinung nach ist viel davon auch biologisch induziert.
Sie behaupten, dass die Definition von Behinderung als Defizit tragische Folgen für die gesamte Gesellschaft hat.
Ja, denn durch diese Definition entsteht ja diese enorme Angst vor Behinderung. Je älter man wird, desto realer wird die Gefahr, dass einem das selbst auch passieren kann. Wir können einen Unfall haben, dement werden. Und wir wissen alle, wie in unserer Gesellschaft damit umgegangen wird. Wenn du nicht mitkommst, dann halte das bitte versteckt! Das sieht man jetzt auch an der Diskussion über Depression, die ich allerdings als ein bisschen unecht empfinde. Da, wo ich herkommen, in Holland, ist das anders. Wenn dort Schriftsteller interviewt werden, dann erzählen die oft sehr freimütig, dass sie es ohne Antidepressiva nicht schaffen würden, dass sie depressiv sind. Das sind oft Leute, die hoch kreativ und erfolgreich sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Frauen in der ukrainischen Armee
„An der Front sind wir alle gleich“
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“