■ Behinderten-Protesttag: Kein Putsch in Sicht
Stellen Sie sich vor, Sie holen sich früh Ihre taz aus dem Briefkasten, aber können sie nicht lesen, weil sie in Blindenschrift gedruckt ist. Verwirrt schalten Sie das Radio ein und hören, daß die behinderten BürgerInnen Berlins geputscht haben und deshalb sämtliche Druckerzeugnisse dieser Stadt nur noch in Punktschrift erscheinen. Außerdem gelten besondere Beförderungsbestimmungen: Vorgeschrieben ist die Benutzung von Sonderfahrdiensten zum Taxitarif, allerdings für höchstens 300 Mark im Monat. Das reicht gerade mal für acht Fahrten. Völlig verunsichert wollen Sie gerade die Wohnung verlassen, da kommt Ihr Sohn und meint, er dürfe nicht mehr in seine Schule gehen, weil drei Stadtbezirke weiter die Sonderschule der richtige Lernort für ihn sei.
Entnervt schnappen Sie sich Ihr Töchterchen, aber die Kita-Türen bleiben geschlossen, denn es gibt kein Recht auf Integration. Sie wollen Ihre Arbeitsstelle anrufen, um sich für heute zu entschuldigen. Aber Sie können sich nicht verständigen, denn der Anrufbeantworter meldet sich mit dem schlichten Hinweis, daß künftig nur Schreibtelefone zu benutzen sind. Sie wissen nicht einmal, was das ist, und wanken zum Arzt. Aber der unterhält sich mit Ihnen in Gebärdensprache, und Sie können ihn nicht verstehen. Resigniert und empört suchen Sie Zuflucht im Café, aber nach kurzer Zeit werden Sie rausgeworfen: Sie sind unerwünscht, denn Sie stören den Genuß der Gäste, so wie Sie aussehen und sich benehmen. Keine Angst, das war nur ein Gedankenspiel, um Ihnen die Benachteiligung behinderter Menschen zu verdeutlichen. Behinderung wird nicht als Lebensrisiko verstanden, als zum Leben gehörend, sondern als Abweichung von der Norm. Ich frage Sie: von welcher Norm? Ich finde es unerträglich, daß meine Steuergelder an Projekte, Einrichtungen oder Behörden vergeben werden, die Behinderte benachteiligen und aussondern. Ich kann Sie aber beruhigen, die 507.382 behinderten BürgerInnen dieser Stadt sind noch weit entfernt vom Putschen – obwohl sie Gründe genug hätten. Aber sie sind nicht gewillt, Diskriminierungen länger hinzunehmen! Andrea Schatz
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