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Behinderte ohne Geld

■ Pflegeversicherung: „Kassen sollen erstmal Leistungen bewilligen“, sagt das Sozialamt und hält sich raus

Die Verträge zur Individuellen Schwerstbehindertenbetreuung, der ISB, sind zum 31.3.95 storniert worden – In einem kurzen Schreiben, zum Teil handgeschrieben, hat die Bremer Sozialbehörde dieser Tage zu Hause lebenden schwerstbehinderten Personen mitgeteilt, daß sie mit Beginn der Pflegeversicherung erstmal kein Geld mehr bekommen werden. Jörg Vosteen hat gar nur einen Anruf gekriegt. „Ich seh schon auf mich zukommen, daß ich wieder in ein Heim muß. Und die Behörde diktiert mir das, das ist doch entmündigend.“

„Jetzt sind erstmal die Pflegekassen dran“, sagt dazu Karl Bronke vom Sozialamt. „Wir warten ab, was die schwerstbehinderten Personen für die häusliche Pflege an Leistungen bewilligen und dann stocken wir bei Bedarf auf.“ Die ISB-Verträge habe man storniert, um die Pflegekassen da ein bißchen anzutreiben. Man wolle doch als Stadt soviel Geld wie möglich aus der Pflegeversicherung rausholen. „Daß wir damit die ISB abschaffen wollen, ist falsch“, fährt Bronke fort, „die wird es weiter geben.“

Bronke empfiehlt den betroffenen Schwerstbehinderten, sich vertrauensvoll an ihr Sozialamt zu wenden, falls sie bis 15. oder 20. April noch keinen Leistungsbescheid von den Pflegekassen haben – die bereits jetzt mit Tausenden von Anträgen im Verzug sind. „Wir als Sozialhilfeträger treten dann ein, strecken das Geld vor und fordern es von den Pflegekassen zurück.“ – „Das ist doch brutal, man pokert auf dem Rücken der Behinderten“, empört sich Gerhard Iglhaupt von der Bremer Landesarbeitsgemeinschaft „Hilfen für Behinderte“. Es verginge kein Tag, an dem nicht Leute heulend bei ihm anrufen, weil sie nicht wissen, wie es mit ihnen weitergeht. „Bremen fährt da die rigideste Tour, in anderen Bundesländern ist man da schlauer.“

In Hamburg hat erst vor zwei Wochen die Grüne Alternative Liste (GAL) durchgesetzt, daß alle Schwerstbehinderten ihr Geld vom Sozialamt auf jeden Fall bis Ende April weiter bekommen. Der Sozialdezernent von Altona hat sich auf Initiative der GAL für diese Übergangsregelung starkgemacht. „Wichtig war uns, daß die betroffenen Leute das Gefühl haben, daß alles weiterläuft wie bisher und sie nicht dieses politische Hickhack austragen müssen“, findet Uwe Clasen von der GAL.

Für ein solches Argument bekommt man beim Bremer Sozialamt nur ein hilfloses Achselzucken und den Verweis auf einen Passus im Gesetz, in dem steht, daß die Pflegeversicherung Vorrang vor der Sozialhilfe habe. Horst Frehe vom Bremer Selbsthilfeverein „SelbstBestimmtLeben“ vermutet hinter dieser Apathie auch den Trick, die Pflegekassen künftiges Pflegegeld bestimmen zu lassen und sich damit ein Stück weit aus der Verantwortung zu ziehen. Alle Schwerstbehinderten, die über die ISB ihr Geld bekommen, brauchen nun ein Gutachten vom Medizinischen Dienst, der im Auftrag der Pflegekassen die Pflegeeinstufung festlegt.

„Da gibt es den Fall einer Frau mit Multiples Sklerose“, berichtet Horst Frehe. „Sie wurde zunächst vom Gesundheitsamt für die ISB als erheblich pflegebedürftig eingestuft und bekam acht Stunden tägliche Betreuung bewilligt. Jetzt kam der Medizinische Dienst, bescheinigt ihr die unterste Pflegestufe und 91 Minuten Betreuung am Tag. Diese Frau kann nicht allein auf die Toilette gehen, sie braucht Hilfe beim Anziehen, im Haushalt, überall!“

„Wir werden die Leute nicht hängenlassen“, beschwichtigt Karl Bronke ein ums andere Mal. „Die Frau kann ja erstmal gegen das Gutachten vom Medizinischen Dienst Widerspruch einlegen.“ Die Gutachten des Medizinischen Dienstes sind jedoch auch für das Sozialamt verbindlich. „Und damit bricht doch alles zusammen, die Leute wissen nicht, ob sie noch länger zu Hause wohnen können“, befürchtet Horst Frehe. „Verschiedenen Wohlfahrtsverbände denken doch schon über weiter Heimbauten nach.“ – „Das heißt für mich, daß ich mein Leben nicht mehr so gestalten kann, wie ich es brauche“, sagt Jörg Vosteen. „Ständig kämpfen? Bei mir ist die Luft raus.“ sip

Am 21. März veranstaltet SelbstBestimmtLeben einen Infotag für alle Betroffenen, Ostertorsteinweg 98, ab 9 Uhr.

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