Barrierefreies Internet: Protesthaltung verspricht Erfolg
Nach wie vor sind weite Teile des Webs für blinde und sehbehinderte Menschen unzugänglich. Dabei könnten barrierefreie Angebote zur Integration beitragen.
Um seinen Wohnort in Google Street View unkenntlich zu machen, hätte Heiko Kunert mit dem Mauszeiger eine rote Markierung darüber platzieren müssen. Für den 34-Jährigen unmöglich, denn er ist seit seinem siebten Lebensjahr blind.
"Buzz, Wave, die neue Instantsuche – das meiste, was Google neu entwickelt, steckt für Blinde voller Barrieren", erklärt Kunert. Und wenn schon der Suchmaschinenriese nur zweitrangig Rücksicht auf Blinde und Sehbehinderte nimmt, investieren weniger finanzstarke Websitebetreiber erst recht nicht in barrierefreie Angebote.
Deshalb müssen blinde und sehbehinderte Menschen häufig auf alternative Software ausweichen. "Man kommt gut zurecht, wenn man einigermaßen fit am PC ist", stellt Heiko Kunert fest, der für den Hamburger Blinden und Sehbehindertenverein die PR macht und tagtäglich im Netz unterwegs ist.
"Vielen fällt es aber schon schwer, sich den Umgang mit der Blindenschrift, Screenreadern oder Vergrößerungssoftware anzutrainieren", sagt er. "Dann auch noch einzelne Alternativdienste für Twitter oder Facebook zu suchen, zu installieren und zu benutzen, kann man nicht von jedem blinden Menschen von vornherein erwarten. Viele geben dann auch auf."
Dabei könnten Behinderte vom Internet und insbesondere vom Social Web noch viel stärker profitieren, wenn sie alle Seiten problemlos nutzen könnten. "Während es im Alltag von beiden Seiten aus nach wie vor Hemmschwellen gibt, kann man als Blinder über Soziale Netzwerke oder Blogs mit nicht-behinderten Menschen auf Augenhöhe kommunizieren", sagt Kunert – aus Erfahrung: Auf seinem Blog Blind-PR auf dem er seinen Lebensalltag schildert, findet ein lebhafter Austausch statt.
"Und weiterhin ist es mir dank des Internets möglich, für mich selbst zu sorgen", fügt Heiko Kunert hinzu. "Ich kann zum Beispiel ohne fremde Hilfe einkaufen." Sofern der Online-Shop barrierefrei gestaltet ist.
Zwar liefert der Staat mit der Barrierefreien Informationstechnik-Verordnung, kurz BITV, die Grundlage für ein Netz, das jedem zugänglich ist. Allerdings wurden die Richtlinien seit April 2002 nur schleppend an neue technische Entwicklungen angepasst; Erst jetzt werden sie generalüberholt. Zudem ist die Verordnung lediglich für Seiten des Bundes und der Länder verpflichtend.
Das ärgert den blinden ITler Marco Zehe sehr. "Seit Jahren weisen sämtliche Experten immer wieder auf Mängel hin, und es ändert sich kaum etwas", sagt der 37-Jährige, der als Barrierefreiheitsbeauftragter in der Qualitätssicherung von Mozilla arbeitet. "Deshalb habe ich vor einiger Zeit entschieden, Schluss mit dem Kuschelkurs zu machen, die Dinge beim Namen zu nennen und Missstände in meinem Blog öffentlich anzuprangern."
Mit dieser Protesthaltung hat der Blogger zunehmend Erfolg: Immer häufiger setzen sich Webentwickler mit ihm auseinander. Einmal wurde er bereits eingeladen, um für eine Agentur ein Seminar durchzuführen. "Es tut sich also schon was", stellt Zehe fest, "aber meist erst, nachdem man Kritik geübt hat. Aber barrierefreie Gestaltung sollte keine Option mehr sein, sondern von vornherein in neue Software oder Seiten implementiert werden."
Mit der offensiven Haltung, die Marco Zehe in seinem Blog vertritt, steht er weitestgehend alleine da; der breite Protest der blinden und sehbehinderten Internetnutzer blieb bislang aus. "Wir hinken da den USA hinterher", stellt Zehe fest. "Da übt der Blinden- und Sehbehindertenverein einen weitaus stärkeren Druck aus. Und generell ist in den USA das Thema Barrierefreiheit ein viel größeres."
Heiko Kunert hat getestet, ob taz.de barrierefrei zugänglich ist: "Weil es für mich keine grafische Orientierung gibt, navigiere ich mithilfe meiner Tastatur über die Seiten. Wenn ich zum Beispiel auf taz.de die E-Taste drücke, komme ich zum ersten Eingabefeld, in diesem Fall ist das die Suche; Und wenn ich die H-Taste drücke, komme ich zur ersten Überschrift. Das funktioniert soweit wunderbar.
Der gröbste Schnitzer scheint mir tatsächlich, dass es praktisch gar keine Alternativ-Texte für Grafiken gibt. Dass die Überschriften im HTML-Code als solche ausgezeichnet sind, ist positiv, allerdings ist die Gliederung der Überschriften-Ebenen unlogisch. Viele blinde und sehbehinderte Nutzer werden dennoch finden, dass taz.de vergleichsweise gut zu bedienen ist, da JavaScript, Video, Klickstrecken und Social-Media-Elemente sehr sparsam bis gar nicht verwendet werden.
Es gibt darüber hinaus aber auch die Möglichkeit, die taz im Digiabo zu beziehen. Ich bekomme da zum Beispiel jeden Abend die taz im HTML-Format per Mail zugeschickt. Die Datei ist dann ganz klar strukturiert und sehr leicht zu benutzen. Und das ist wirklich eine vorbildliche Sache, die in dieser Form nur von wenigen Zeitungen angeboten wird."
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