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Barfuß im Schneematsch

Nicht mehr dort und noch nicht hier: In Ricarda Junges Erzähldebüt „Silberfaden“ versuchen Frauen in New York und anderswo, mehr zu sein als was in ihnen gesehen wird

von SUSANNE MESSMER

In einer ihrer schönsten Geschichten beschreibt Ricarda Junge eine junge Frau, die säuft wie ein Kerl und die ihrem ersten Freund sagt, wie eklig sie seine Küsse findet. An einem Abend geht sie mit einem Mann, weil er wie eine Frau riecht und nie mit der Faust auf den Tisch schlagen würde. Dieser Mann bittet sie, sich in seiner Wohnung die Schuhe auszuziehen. Er hat keinen Alkohol im Haus und bietet ihr Tee in bunten Steingutbechern an. Sie reagiert trocken: Versucht sich mit ihm über Politik zu unterhalten, was nicht klappt, weil er nur über Menschen reden will. Sorgt sich um ihn, weil er blaue Lippen vor Kälte hat. Bietet ihm ihren Anorak an. Bringt ihm das Rauchen bei und kauft ihm Wein.

Die Erzählung „Barenberg“ ist nur eine von vielen im Erzähldebüt „Silberfaden“ von Ricarda Junge, in der sich eine Frau fragt, wie sie ihren Gefühlen trauen kann – oder ob diese nicht fremden Wunschvorstellungen sind, die in ihr Gestalt angenommen haben. Alle Figuren von Ricarda Junge, die erst dreiundzwanzig Jahre alt ist und seit drei Jahren am Literaturinstitut in Leipzig studiert, versuchen mehr zu sein als das, was in ihnen gesehen wird, wollen die mythische Frau zum Verschwinden bringen und ein Selbstbild finden, das nichts mit Projektion zu tun hat, mit Männerphantasien oder anderen gesellschaftlichen Erwartungen. Sie sind auf der Flucht vor dem, was sie festlegt, und dazu braucht es viele Ortswechsel.

Ricarda Junges Frauen sind in New York, in Berlin, in Leipzig oder in Krakau, viele sind dort aber nur auf der Durchreise, sind nicht mehr da, wo sie herkommen, können aber dort, wo sie hingegangen sind, noch keine Wurzeln schlagen. In Leipzig geht ihnen der Schneematsch, die Straßenbahnschienen und der Braunkohleruß auf die Nerven, in Berlin geistern sie durch die Straßen, ohne etwas wiederzuerkennen, sie ekeln sich vorm Gestank der großen, kalten Stadt, davor, wie die Leute in New York leben, in dreckigen Apartments mit klebrigem Boden, voller Müllsäcke und Alugeschirr und Kaffeepappbechern. Es macht sie frieren, wie ungeschützt die Frauen sind, dass sie beinahe barfuß, in Sandalen durch den Schnee gehen, „mit lackierten Nägeln, und unter den Mänteln schauen dünne Stoffe hervor, umwehen die Beine, die nackt aussehen“.

Alle Frauen von Ricarda Junge, die selbst in der hessischen Provinz groß geworden ist, befinden sich in einem Zustand des Dazwischen, in einem Vakuum, das keine Heimat ist. Fast alle verabschieden sich gerade von ihren Eltern, von der Kleinstadt, aus der sie kommen, wo Kirchuhren, gelbe Siedlungshäuser und Kasernen, Schaufenster und Zäune aus Gusseisen wichtig sind. Sie fahren noch einmal ins Elternhaus, das verkauft werden soll und nehmen den Verlust der Requisiten der Kindheit scheinbar ungerührt zu Kenntnis, den Verlust der Gipsmaske und des Ballettkleidchens, des Gartens und der nassen Erde darin. Sie wollen ihr neues Leben, in dem sie sich nicht wohler fühlen, freihalten vom alten, weigern sich, den Freund ins Haus der Eltern mitzunehmen oder trennen sich in einer anderen Geschichte von ihm, weil er den toten Vater kannte. Wo sie allerdings hingehören, das ist völlig unklar und wird vielleicht unklar bleiben.

So auch bei der Protagonistin in „Ostwärts“. Sie lebt in Leipzig, in der Wohnung ihres Vaters, an der sie lange nichts zu verändern wagt, hat aber ihre Gedanken auf Krakau gerichtet, wo sie aufgewachsen ist und den lang nicht gesehenen Vater vermutet. Doch alle ihre E-Mails an ihn bleiben unbeantwortet. Sie verliebt sich in eine Frau, die viel weiblicher ist als sie, die cremig riecht und sich rhythmisch bewegt und sehr beliebt ist bei ihren Kommilitonen. Während Miriam ausführlich beschrieben wird, bleibt die Heldin wie alle Heldinnen bei Ricarda Junge absichtsvoll blass, sie sprechen selten über sich und haben oft auch keinen Namen. Es gibt keine Szene, in der sie darüber spekuliert, wie sie auf andere wirken mag. Nur ein einziges Mal schaut sie sich im Spiegel an, nämlich dann, als sie Bier aus der Flasche trinkt, die sie sich kurz zuvor mit den Zähnen aufgemacht hat. Sie definiert sich nicht darüber, was sie ist, sondern darüber, was sie hat und macht, also nicht von außen nach innen, sondern von innen nach außen. Auch als die Frau in „Ostwärts“ von Miriam zurückgestoßen wird, weil sie sie versucht zu küssen, scheint es, als wäre sie nicht verletzt. Ihre Liebe geht erst zu Ende, als sie zusammen nach Krakau reisen und Miriam nichts von dem erkennt, was ihre Freundin zu finden hofft.

In ihren sachlichen, schnörkellosen, einfachen und knappen Sätzen hat es den Anschein, als wolle Ricarda Junge um jeden Preis eine Sprache vermeiden, die als Frauensprache missverstanden werden könnte, jede Art von Blumigkeit oder Manieriertheit zum Beispiel. So lesen sich ihre Erzählungen manchmal wie trockene Tatsachenberichte, die einen gerade deshalb ins Erzählte ziehen. Lila zum Beispiel ist auch so eine, die alles sein will, nur nicht weiblich. Sie verliebt sich in Janusch, der sie nimmt, wenn sie da ist, und andere nimmt, wenn sie nicht da ist.

In ihrer Freundin, einer Zimperliese, die immer friert und jammert, zu dünn ist und schimpft, wenn andere viel essen, in dieser Freundin erkennt Lila, dass es keinen Sinn hat, sich über den Blick Januschs zu vergegenwärtigen. Diese Freundin wehrt sich nicht dagegen, dass man sich um sie kümmert, weil sie so verletzlich wirkt, im Gegenteil. Sie findet es schick, die schwindsüchtige Femme Fragile zu geben.

Ricarda Junge: „Silberfaden“. Collection S. Fischer, Frankfurt am Main 2002. 188 S., 12 €

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