Bandenkrieg in Marseille: Eine zweite Chance
„Dealen ist doch kein Beruf und keine Zukunft“, sagt Samia Ghali. Die Senatorin aus Marseille schlägt Alarm – ein Bandenkrieg bedroht die Stadt.
MARSEILLE taz | Wo geht es zur Front? Von einem „Bandenkrieg“ im Norden von Marseille war im Fernsehen die Rede. Der fast 70-jährige Taxifahrer, der sich „Monsieur Josi“ nennt, lacht nicht. Er schimpft über die Polizei, die nie dort sei, wo man sie brauche. Er bestätigt, dass es einige „Cités“ gebe, jene Hochhaussiedlungen mit Sozialwohnungen, wo er selbst am Tage nicht gern und nachts „ganz sicher nicht“ hinfahre.
Er ist nicht der Einzige. Auch Ärzte, Sozialhelfer, die Feuerwehr und selbst die Polizei meiden die Gegend. Auf dem vom Fremdenverkehrsamt verteilten Stadtplan fehlen diese Quartiere, als könne so ihre Existenz geleugnet werden.
Eine „unsichtbare Mauer“ trenne den Norden vom Rest der Stadt, erklärt Samia Ghali. Sie ist Senatorin und Bezirksbürgermeisterin des 15. und des 16. Arrondissements, die zu dieser gemiedenen Zone gehören. Noch schlimmer findet sie es, dass diese Grenze in den Köpfen der Menschen existiert.
Konkurrenten: Um das Geschäft mit Cannabis, Kokain und Ecstasy liefern sich derzeit in den nördlichen Quartieren von Marseille mehrere kleinere Banden einen erbitterten Kampf. Nach offiziellen Angaben sollen dabei seit 2008 80 Menschen den Tod gefunden haben. Bei diesen mörderischen Abrechnungen werden immer häufiger Kriegswaffen vom Typ Kalaschnikow eingesetzt.
Die Ware: Sie kommt größtenteils via Spanien aus Marokko. Seit Kurzem wird auch in Südfrankreich lokal Hanf für den Markt in Marseille angebaut.
Gewinn und Umsatz: Der Soziologe Michel Kokoreff schätzt, dass in Frankreich jährlich 186 bis 208 Tonnen Kannabis für rund eine Milliarde Euro umgesetzt werden. Nur ein Zehntel der importierten Menge würde beschlagnahmt. Der Chef eines lokalen Rings in La Castellane soll laut Paris Match bis zu 80.000 Euro täglich verdienen, während Lagerhalter, Verkäufer, Aufpasser und Kundenwerber einen viel geringeren Anteil bekämen – etwa 1.000 Euro pro Tag. Der Ökonom Christian Ben Lakhdar hält diese Zahl für überschätzt. Ein kleiner Dealer verdiene nicht mehr als 10.000 Euro pro Jahr, was in Frankreich in etwa dem gesetzlichen Minimallohn entspricht. (rb)
„Wenn die Leute von hier ins Zentrum an der Cannebière und rund um den Alten Hafen fahren, sagen sie: Wir fahren nach Marseille runter, als wenn sie selber nicht zu dieser Stadt gehören würden.“ Das Rathaus des Außenbezirks, in dem Ghali empfängt, liegt am Rande eines Parks und hat einen hübschen Innenhof, der von der spätsommerlichen Sonne in das für die Provence so typische milde Licht getaucht wird.
Drogenhandel ernährt Familien
Das stimmt Ghali nicht versöhnlicher. Sie bedauert es, dass ihre Stadt wegen einer Serie von blutigen Abrechnungen in letzter Zeit Schlagzeilen gemacht hat. „Der Drogenhandel ist heute der größte Arbeitgeber der jungen Männer in diesen Quartieren und ernährt indirekt ganze Familien“, sagt sie und setzt erregt hinzu: „Aber Dealen, das ist kein Beruf und keine Zukunft. In diesem Metier wird aus den geringfügigsten Anlässen getötet.“ Diesen Sommer ist der Sohn ihrer besten Schulfreundin auf der Straße erschossen worden.
In einem Interview mit der Lokalzeitung La Provence hat Samia Ghali vor zwei Wochen den Einsatz der Armee gefordert und damit national für Aufsehen gesorgt. Das Militär solle die Dealer entwaffnen und den Zugang zu den „Supermärkten des Drogenhandels“ blockieren. „Ohne Nachfrage kein Angebot“, lautet Ghalis Logik zur Bekämpfung dieser Untergrundökonomie.
Aufschrei der Empörung
„Soll ich dir die zweite Panzerdivision schicken?“, habe sie der Innenminister, ihr sozialistischer Parteikollege Manuel Valls, am Telefon spitz und spöttisch gefragt. „Die Provokation ist mir jedenfalls gelungen, und das war natürlich auch der Zweck der Übung“, gesteht Samia Ghali mit unverhohlener Genugtuung.
Seit ihrem Aufschrei der Empörung wird die 44-jährige Frau mit algerischen Wurzeln zu Talkshows und Interviews eingeladen. Viele Bewohner der betroffenen Quartiere befürworten ihren Vorschlag. „Trotzdem, wir sind nicht in Chicago“, relativiert Aurélie Masset, eine Vereinsverantwortliche aus dem Quartier Bassens, wo auch ihre Freundin Ghali aufgewachsen ist.
Statt der Armee bekommt Marseille vorerst „nur“ 205 zusätzliche Ordnungshüter und einen neuen Polizeichef. Doch dabei soll es nicht bleiben, verspricht Premierminister Jean-Marc Ayrault bei seinem Besuch in Marseille am 10. und 11. September. Die Schülerinnen und Schüler warten draußen vor der „Ecole de la deuxième chance“ („Schule der zweiten Chance“) auf den hohen Besuch. Einige haben zu diesem außergewöhnlichen Anlass ihre „Sonntagskleider“ angezogen. Jeden Tag kommt es ja nicht vor, dass junge Menschen wie sie den Premierminister persönlich treffen.
Unliebsame Pflichtübung
Am Horizont hinter der Grünanlage des Schulgeländes sind die Hochhausblöcke mit Satellitenschüsseln der „Résidence Campagne Lévêque“ zu erkennen. Das ist eine dieser Siedlungen mit wohlklingenden Namen, wo die Jugendarbeitslosigkeit mehr als 50 Prozent beträgt und die Polizei sich nur in größeren Verbänden vorwagt. In dieser „Residenz“ wohnt der 19-jährige Schüler Sofiane B., der in Erwartung der Dinge mit seinem Kumpel auf einem Mäuerchen sitzt. Unter seiner weißen Mütze grinst er schüchtern. Wie „Monsieur“ – gemeint ist der Regierungschef – heiße, wisse er nicht, bekennt er halb geniert, halb amüsiert.
Die Schule „E2C“ wirkt vor dieser Kulisse wie eine Oase. Sie gibt ehemaligen Schulaussteigern zwischen 18 und 25, die sonst herumhängen und auf die schiefe Bahn geraten könnten, die Möglichkeit, noch einmal einen Einstieg ins Erwerbsleben zu schaffen. Dafür erhalten sie in Kursen individuelle Unterstützung.
Auf die Frage, welchen Beruf er wählen wolle, antwortet Sofiane schnell: „Schweißer“. Er verhehlt nicht, dass er wie die meisten seiner Kameraden schon mit der Polizei zu tun gehabt hat. „Kleine Dummheiten halt. Ein Motorrad geklaut. Nichts Schlimmes“, rückt der eher Wortkarge mit der Sprache heraus. Es klingt wie auswendig gelernt, als er sagt, es sei doch wohl gescheiter, Arbeit zu suchen.
Zusammen mit mehr als 20 anderen Schülern sitzt er kurz darauf in der mit Blumen geschmückten Kantine, als Regierungschef Jean-Marc Ayrault mit einer eindrucksvollen Eskorte aus Ministern, lokalen Abgeordneten, Kommunalpolitikern und Bodyguards eintritt. Der Premierminister spricht von einem „ungeheuren Potenzial, das nicht verschleudert werden darf“, er lobt das Personal und die pädagogische Methode, welche den persönlichen Werdegang und sozialen Kontext mit in Betracht ziehe. Ihm ist anzusehen, dass er sich bei dieser Pflichtübung „Kontakt mit einfachen Jungbürgern“ in seiner Haut nicht sehr wohlfühlt.
Eine zweite Chance geben
Dabei machen es ihm zwei Schülerinnen leicht, die sich höflich vorstellen und erzählen, wie sie dank der E2C ihr Vertrauen in die Zukunft wiedergefunden hätten. Die selbstsicher auftretende 25-jährige Margérie Farri sagt, dass sie die „zweite Chance“ genutzt habe, sie könne nach nur sechs Monaten in der E2C eine Stelle in der Fischabteilung eines Kaufhauses antreten.
Die 21-jährige Sabrina Mouna erzählt, dass sie wegen der Geburt ihres Sohns die Schule abbrechen musste und dachte, damit sei für sie „alles zu Ende“. Jetzt hofft sie, dank der Kurse Arbeit im Handelssektor zu finden. Aber auch das wäre unmöglich, wenn ihr Kind nicht jetzt in der Krippe bleiben könnte.
Aufmerksam hört Ayrault zu, stellt Zwischenfragen. Da meldet sich der 23-jährige Azzedine Djedaoua mit einer kritischen Anmerkung zu Wort. Das sei ja alles schön und gut, aber er sei nun zum zweiten Mal an dieser Schule und habe außer unbezahlten Praktika nichts in Aussicht.
Später schimpft er, diese Probejobs ohne Lohn seien „eine Form von Sklaverei“. Er findet es nicht in Ordnung, dass er mit 23 noch bei seiner Mutter wohnen muss und seinen Unterhalt nicht selbst bestreitet. Seine Alterskameraden glauben, er verschwendet in der Schule seine Zeit, wo er doch wie sie als Aufpasser oder kleiner Dealer Geld machen könnte.
Ayrault hatte zuvor gesagt, er sei „nach Marseille gekommen, um Menschen zu treffen, die sich der Fatalität des Niedergangs widersetzen“. Die Stadt solle ein zweite Chance kriegen. Auch Samia Ghali hat den Regierungschef begleitet. Ihr Enthusiasmus hält sich in Grenzen. Sie befürchtet, dass sich nach kurzem Medienrummel das Interesse an Marseille schnell wieder legen könnte. Bis zum nächsten Opfer einer Abrechnung im Milieu der jungen Dealer.
Viele Alleinerziehende
Viel kritischer äußert sich Karima Berriche. Die 50-Jährige ist seit vielen Jahren Leiterin des Sozialhilfezentrums „Agora“ im Quartier La Busserine, das als erste „zone urbaine sensible“ Frankreichs längst zum sozialen Notstandsgebiet erklärt worden ist. Berriche kennt alle Facetten der Misere und die Geschichte der Häuserblocks, in denen rund 16.000 Menschen leben. Ein Drittel der 3.900 Haushalte werden von alleinerziehenden Mütter gemanagt.
Allein die Frage, ob die Eltern nicht wegen mangelnder Fürsorge mitverantwortlich seien für die kriminellen Fehltritte ihrer Kinder, bringt sie in Rage. Wer so rede, wisse überhaupt nichts über die Umstände. Berriche hält eine vernichtende Rede über die Politik der letzten fünf Jahre der Präsidentschaft Sarkozy, die die Lage drastisch verschlimmert habe. Die Quartiere im Norden bräuchten nicht die Armee, sondern eine Art „Marshallplan“ (sie korrigiert, sie liebe diesen Begriff nicht), um einen „Rückstand von dreißig Jahren“ aufzuholen.
Vielleicht hätte Regierungschef Ayrault auch sie besuchen sollen. Er hätte dabei ein weniger erbauliches Bild von Marseille vorgefunden, das hier mehr einem Indianerreservat gleicht. Von diesem Teil des 14. Bezirks führt keine Bus-, Straßenbahn- oder Metrolinie ins Zentrum Marseilles. Von Zeit zu Zeit hält ein Zug aus Aix-en-Provence. An der Haltestelle ist der Ticketautomat kaputt.
„Es nützt sowieso nichts, einen Fahrschein zu kaufen, weil man ihn nicht entwerten kann“, sagt ein Mädchen im Vorbeigehen. „Und wenn du kontrolliert wirst, musst du mit einem nicht entwerteten Fahrschein trotzdem Bußgeld zahlen“. Ein älterer Mann sagt, darum bezahle er auch nicht. Aber es sei doch ein Jammer, dass junge Menschen das Wenige zerstörten, was an öffentlicher Infrastruktur überhaupt noch vorhanden sei.
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