Banda Aceh nach dem Tsunami: Die Scharia am Strand
Den Tsunami nahmen viele Acehnesen als "Prüfung Gottes" wahr und setzten ihre Hoffnung auf die Scharia . Während korrupte Beamte ungeschoren bleiben, verfolgt sie Frauen.
BANDA ACEH taz | Die Sonne senkt sich hinter die Hügel am Ende der Bucht und taucht den Himmel in goldenes Licht. Am Strand von Ulee Lheue, am Rand von Acehs Provinzhauptstadt Banda Aceh, herrscht, wie jeden Samstag, Hochbetrieb. Nichts erinnert auf den ersten Blick an den Tsunami, der am 26. Dezember 2004 aufs Land prallte und in Aceh 170.000 Todesopfer forderte.
Von kleinen Grillständen entlang der neu errichteten Strandpromenade steigt Rauch auf, Familien verzehren geröstete Maiskolben. Kinder plantschen im Wasser, Angler stehen auf einer aus großen Steinen errichteten Mauer und warten geduldig auf einen Fang. Daneben haben sich junge Pärchen ein Plätzchen gesucht und genießen den Blick übers Meer zur untergehenden Sonne hin.
Der 23-jährige Filin und die 24-jährige Zubaidazah sitzen im Abendlicht beieinander. "Für mich ist es immer noch so, als ob es gestern war", sagt Filin, der den Tsunami knapp überlebte, durch die Katastrophe Vater und Mutter verlor. "Aber wir sind froh, dass jetzt Frieden herrscht in Aceh", fügt der sportliche junge Bankangestellte in schwarzem T-Shirt, Jeans und Sandalen hinzu.
Der im Sommer 2005 vertraglich besiegelte Frieden, den die separatistische Bewegung Freies Aceh nach dreißig Jahren Bürgerkrieg mit der indonesischen Regierung schloss, dieser Frieden ist ein Ergebnis der Tsunami-Katastrophe. "Früher durften wir abends nicht hier draußen am Meer sitzen", sagt Filins Freundin und Kollegin Zubaidazah, eine junge Frau, die über schwarzen Leggins eine lange, leuchtend blaue Bluse und ein gleichfarbiges Kopftuch trägt, und erinnert an die vom Militär überwachten Sperrstunden. Doch obwohl inzwischen Frieden herrscht, bricht das Paar auf, sobald die Dämmerung einsetzt. Denn in Aceh kontrolliert inzwischen die Scharia-Polizei, ob die Muslime der Provinz sich "anständig" verhalten. Filin und Zubaidazah finden das in Ordnung. Unverheiratete Paare, die sich im Dunkeln am Strand herumdrückten, hätten am Ende doch nur "verbotene Sachen" im Sinn.
Als im Januar bekannt wurde, dass mehrere Scharia-Polizisten auf ihrem Revier eine Studentin vergewaltigt hatten, waren viele Acehnesen schockiert und stellten fortan die moralische Legitimation der Religionshüter in Frage. Filin und Zubaidazah hingegen sind überzeugt, dass die Täter auf gar keinen Fall Acehnesen gewesen sein können. "Die Regeln der Scharia sind trotzdem richtig", sagen sie und verlassen im Halbdunkel den Strand.
Die Regeln der Scharia. Sie gelten seit 2001. Einst wurden sie der Provinz von der Zentralregierung "zugestanden", jedoch ohne dass sich zuvor die Mehrheit der Acehnesen dafür ausgesprochen hätte. Jakarta glaubte jedoch, so die Unabhängigkeitsbestrebungen im Zaum zu halten. Nach dem Friedensvertrag von 2005 bekam Aceh ein neues Autonomiegesetz, welches an der Scharia jedoch nicht rüttelte.
Aceh, der Provinz an der Nordspitze der Insel Sumatra, gaben arabische Händler einst den Namen "Veranda von Mekka". Hier setzte die Islamisierung Indonesiens am frühesten ein. Der Islam ist bis heute ein starker Bestandteil der acehnesischen Identität. Während in Indonesien im Landesdurchschnitt etwa 86 Prozent Muslime leben, sind es in Aceh 98 Prozent.
Viele Acehnesen erhofften sich von der Scharia eine gerechtere und weniger korrupte Gesellschaft. Deswegen gab es zunächst keinen starken Widerstand, als muslimische Kleidervorschriften erlassen wurden, als Glücksspiel, Alkohol und das Zusammensein von unverheirateten Paaren ohne Zeugen verboten wurden. Zumal die Vorschriften zwar da waren, aber nicht allzu streng umgesetzt wurden.
Das änderte sich nach dem Tsunami. Die Naturkatastrophe im Dezember 2004 nahmen viele Acehnesen als "Prüfung Gottes" wahr, sie führte zu einer noch stärkeren Hinwendung zur Religion. Dann kamen mit den zahlreichen westlichen Helfern Vertreter eines den meisten Acehnesen reichlich fremden Lebensstils ins Land. Ein Teil der jungen, gut ausgebildeten, eher liberal gesinnten lokalen Elite freundete sich mit diesem Lebensstil an. Die 31-jährige Mutia Rosa zum Beispiel, die, wie häufig am Abend, mit ihren Freunden in einem der zahlreichen Cafés von Banda Aceh sitzt. Alle sprechen fließend Englisch, alle waren oder sind für ausländische NGOs aktiv. Gerade weihen sie eine neu angereiste australische Ingenieurin in die Landkarte der Ausgeh-Orte der Provinzhauptstadt ein. Mutia Rosa ist Muslimin. Sie trägt enge Jeans, eine nicht besonders weite Bluse und kein Kopftuch. "Dieser Ruf muss von innen kommen, bis jetzt habe ich ihn noch nicht vernommen", lacht Mutia, die mit einem Engländer liiert ist.
Das Zusammentreffen mit einem westlichen, individualistischen und hedonistischen Lebensstil war hingegen etwas, das viele Bewohner der während des Krieges quasi von der Außenwelt abgeriegelten Provinz verunsicherte - was von konservativ-islamischen Kräften gerne instrumentalisiert wurde.
Die Hinwendung zu Law and Order à la Scharia wurde immer stärker spürbar. Nur ein halbes Jahr nach dem Tsunami gab es die ersten öffentlichen Auspeitschungen von Glücksspielern. Seitdem sind die Szenen mit vermummtem Vollstrecker und einem der gaffenden Öffentlichkeit preisgegebenen Opfer häufiger zu sehen. Während korrupte Beamte weiterhin unangetastet bleiben und reiche Gesetzesbrecher sich frei kaufen können, treffen die Strafen überwiegend die Armen.
Besonders Frauen sind den Kleiderkontrollen der Scharia-Polizei ausgesetzt. Die 42-jährige Nur Asmi steht vor ihrem ehemaligen Haus am Stadtrand von Banda Aceh, etwa einen Kilometer vom Meer entfernt. Ihr Mann und ihre Kinder starben hier, als der Tsunami kam. Seitdem ist die Witwe auf sich allein gestellt. Seit über 20 Jahren arbeitet Nur Asmi als Krankenschwester. Sie kann sich noch an Zeiten erinnern, in denen sie in einem knielangen Rock ihrer Arbeit nachging. Heute trägt sie ein Kopftuch, lange Hosen und eine lange Bluse darüber. "Wenn demnächst nur noch Röcke erlaubt sind, wie soll ich dann noch mit dem Moped zur Arbeit fahren?", fragt Nur Asmi.
Was demnächst erlaubt sein wird und was nicht, ist in Aceh keine sichere Sache. Lokale Regierungen haben eigene Regeln erlassen. So gilt seit Januar im Distrikt Westaceh ein strikter muslimischer Dresscode, der jegliche Kleidung verbietet, die weibliche Konturen sichtbar macht. Die acehnesische Frauenrechtlerin Ephie Calan bringen solche Nachrichten in Rage. "In Meulaboh gibt es immer noch Tsunamiopfer, die kein Haus haben! Warum hat die Regierung nichts Besseres zu tun, als über Kleidervorschriften nachzudenken?", fragt sie.
Im Rahmen der Autonomieregelung werden in Aceh derzeit zahlreiche Gesetze "lokalisiert", darunter auch das Arbeitsrecht. Im jüngsten Entwurf steht, dass Frauen nur mit Genehmigung ihres Ehemannes arbeiten dürfen. Und dass sie nach 22 Uhr nicht mehr arbeiten sollen. Verteidiger des Entwurfes sagen, er entspreche der acehnesischen Kultur. Frauen seien nun mal zuerst für die Familie da.
Ephie Calan beklagt hingegen, dass Aceh hinter nationale und internationale Menschenrechtsnormen zurückfalle. "Der Spielraum für FrauenrechtsaktivistInnen ist kleiner geworden", sagt Ephie, die - um Ärger mit der Scharia-Polizei zu vermeiden - inzwischen auch lieber ein Kopftuch aufsetzt, wenn sie auf die Straße geht. Frauen stünden weit unter den Männern, sie seien nicht an Entscheidungen über Investitionen beteiligt, sagt Ephie und fügt hinzu: "Männer denken zuerst an Moscheen, Frauen an Gesundheitsstationen." Mit fatalen Folgen: 40 von 1.000 Kindern erleben in Aceh ihren ersten Geburtstag nicht. 238 von 100.000 Müttern sterben bei der Niederkunft. Mit beiden Werten steht die Provinz - trotz Milliarden internationaler Hilfen und trotz der durch das Atonomiestatut garantierten eigenen Einnahmen aus seinen Erdöl- und Gasvorkommen schlechter da als der nationale Durchschnitt.
Ephies Organisation Flower Aceh versucht, mit Hilfe von Kleinkreditprogrammen in Dörfern Frauen und Männer an einen Tisch zu bekommen: "Wir nennen das dann natürlich nicht Gender-Training", sagt Ephie augenzwinkernd mit Verweis auf die vielen wohlklingenden Programme internationaler NGOs. "Viele ausländische Hilfsorganisationen haben die Frauen ein weiteres Mal zu Opfern gemacht", sagt Shadia Marhaban, ehemals Unterstützerin der Rebellenbewegung GAM und Gründerin des Frauennetzwerkes Lina. "Schauen Sie sich doch mal all die Poster und Broschüren an, da sind kaum Akteurinnen, da sind nur Opfer zu sehen", so Shadia. Zu wenig der internationalen Hilfe und Beratung sei in die politische Stärkung von Frauen geflossen. Gleichzeitig sei die lokale Frauenbewegung zersplittert und stehe ständig unter dem Druck, als "unislamisch" gebrandmarkt zu werden.
Ohnehin ist Shadia überzeugt, dass den Frauen in Aceh keine Gerechtigkeit widerfährt, so lange die Vergangenheit nicht aufgearbeitet ist. "Wir brauchen keine Gender-Kommission, wir brauchen eine Wahrheits- und Versöhnungskommission", sagt sie mit Blick auf die während des Krieges begangenen Gräueltaten durch Militär und Rebellen. Eine solche Kommission einzusetzen, stand eigentlich im Friedensvertrag von Aceh. Bis heute gibt es sie aber nur auf dem Papier. "Aceh hat zwar viele neue Häuser bekommen", sagt Shadia, "aber kein neues Herz, weil die alten Wunden nie geheilt wurden."
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