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„Ball“ war ihr einziges Wort

Eine Mutter sperrte ihre behinderte Tochter jahrelang in einem Gitterbett ein/ Den Bremer Behörden war das Schicksal der inzwischen 33jährigen bekannt/ Ein von der Mutter geduldeter Sozialarbeiter setzte sich für das Mädchen ein  ■ Aus Bremen Birgitt Rambalski

Die 24 blankgeputzten Klingelschildchen am Hauseingang lassen nichts Ungewöhnliches ahnen: Ein Neubaublock wie jeder andere, mitten in Bremen. Hier fand die Geschichte der 33jährigen Yvonne Hauenstein am Mittwoch ein vorläufiges Ende, das wie kaum ein anderes Ereignis die BremerInnen bewegt. Hier gaben sich Foto- und Kamerateams seitdem die Klinke in die Hand, um dem nachzuspüren, was die Polizei (nach einem „grauenvollen Einsatz“) veröffentlicht hatte: Daß die geistig Schwerstbehinderte in der Wohnung ihrer schwerkranken, 66 Jahre alten Mutter in einem Holzkäfig gehalten wurde und daß die 33jährige in dem verkoteten, 200 mal 100 mal 180 Zentimeter großen Käfig hockte, an einer völlig verschmutzten Windel herumkaute und unartikulierte Laute ausstieß. Die Mutter lag tot daneben.

Das erste Urteil der Polizei, die gleich zur Stelle war, lautete „menschenunwürdig“. Sie erfuhr auch, daß sich Nachbarn wiederholt um Hilfe für die 66jährige bemüht hätten — doch „offenbar ohne nachhaltigen Erfolg.“ Durch Polizeifotos von dem verkrüppelten nackten Mädchen hinter Gittern zusätzlich animiert, begannen Journalisten und Ämter sensationsgierig die Suche nach Schuldigen.

Die Nachbarn, manche kennen die Hauenstein seit 20 Jahren, hatten sich oft über die schrullige Frau geärgert, zuletzt bei einer Eigentümerversammlung wenige Stunden vor ihrem Tod. Von dem Käfig wollen sie nichts gewußt haben, um die Probleme der schwerstbehinderten Yvonne und ihrer eigensinnigen Mutter haben sie sich kaum gekümmert. Erst als der Gestank aus der verwahrlosten Eigentumswohnung immer penetranter wurde, beschwerten sich die Nachbarn bei der Gesundheitsbehörde.

Den Behörden waren der Holzverschlag und das Schicksal von Yvonne und ihrer Mutter dagegen seit Jahren bekannt. Hilflos schoben sie den Fall durch die Zuständigkeiten, der letztlich das Versagen des Systems offenbarte: Schon 1986 versuchte das Amtsgericht, der immer hinfälliger werdenden Mutter (sie hatte Diabetes und war fast blind) die Pflegschaft zu entziehen. „Ein traumatisches Erlebnis“ sei die Ortsbesichtigung für ihn damals gewesen, beschreibt Amtsrichter Fischer seine Eindrücke im nachhinein. Fischer setzte daraufhin das Amt für soziale Dienste als Pfleger ein. Doch die Mutter wehrte sich wie schon so oft, wenn irgend jemand versuchte, in ihre symbiotische Beziehung zu ihrer Tochter einzudringen: Das Bremer Landgericht machte den Beschluß höchstrichterlich wieder rückgängig. Denn der Nervenarzt und jahrzehntelange Leiter des sozialpsychiatrischen Dienstes in Bremen, Anton Schopmans, hatte Mutter Hauenstein bescheinigt, daß sie trotz zahlreicher Krankheiten in der Lage sei, das Sorgerecht auszuüben. Auch er kannte das vergitterte Bett („Das Wort ,Käfig‘ will ich bewußt vermeiden“), das die Mutter angeblich auf Anraten der Rotenburger Anstalten sonderanfertigen ließ. Obwohl „keine glückliche Lösung“, zog Schopmans diese Unterbringung für Yvonne einem Heimplatz vor: „Dort wäre sie in ihrem Bett festgebunden worden“, erklärt der Mediziner seine Entscheidung, die 1988 in eine Zeit fiel, als die Bremer Psychiatrische Verwahranstalt „Kloster Blankenburg“ gerade aufgelöst wurde.

Den Zustand des Mädchens beschreibt Schopmanns als „schockierend“: Sie habe an ihrem Körper keine Kleider, auch keine Pampers geduldet. Habe nichts allein essen und weder Urin noch Stuhl kontrollieren und auch keinen Kontakt zu ihrer Umwelt aufnehmen können. Zahlreiche Arztberichte belegen, daß Yvonne Heimaufenthalte (wenn die Mutter zum Beispiel ins Krankenhaus mußte) immer mit Nicht- schlafen-können und verstärkter Unruhe quittierte.

Während der gutachterlich untermauerte Landgerichtsbeschluß Yvonne als bildungsunfähig darstellte, belegt die jüngste Entwicklung das Gegenteil: In zäher, aber partnerschaftlicher Auseinandersetzung mit der Mutter erreichte ein engagierter Sozialarbeiter, daß Yvonne stundenweise in eine Tagesstätte für Behinderte der Arbeiterwohlfahrt gebracht wurde. Yvonne lernte einige Schritte zu gehen, lernte aus einer normalen Tasse zu trinken, sich zur Toilette bringen zu lassen und sie lernte ein Wort: „Ball“. Welche Förderung bei der von Geburt an hirngeschädigten Frau darüber hinaus noch möglich ist, sei nicht vorhersehbar. Jetzt ist Yvonne in der Einrichtung untergebracht. Für ihre Rund-um-die-Uhr-Betreuung wurde eine Zusatzkraft eingesetzt.

Fritz Meyer, der Sozialarbeiter, den die Mutter als wohlmeinenden Helfer akzeptierte und der auch schon zusammen mit Zivis die verkoteten Fußböden schrubbte, sieht in Yvonnes Geschichte die Konsequenzen gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderten. Frau Hauenstein habe immer geglaubt, sich für ihre Tochter verteidigen zu müssen. Nachdem der Ehemann sich scheiden ließ, blieb die Frau mit zwei behinderten Kindern zurück. Das Physikstudium brach sie ab. Der schizophrene Sohn nahm sich das Leben. Frau Hauenstein zog sich in die Isolation ihrer Wohnung zurück.

Dort ließ sie niemanden über die Schwelle. Ihr einziger Kontakt zur gesellschaftlichen Außenwelt war der tägliche Einkauf. Sie erwarb für ihre Tochter schöne Kleider, die sie nie anzog, kaufte ihr frisches Gemüse und zelebrierte alljährlich den Geburtstag der Tochter mit Nuß- Sahne-Torte.

Der Sozialarbeiter wollte den Pflegschaftsbeschluß des Landgerichts Bremen aus dem Jahre 1988 nicht anfechten; denn der Mutter das Sorgerecht zu entziehen, hätte auch letzlich bedeuten können, die Tochter gegen den Willen der Mutter in ein Heim zu bringen. Alle Beteiligten hätten sich damit unter Umständen über die emotionalen Rechte der Schwerstbehinderten hinweggesetzt, die Yvonne selbst nie artikulieren konnte.

Der Sozialarbeiter ließ sich lieber darauf ein, Yvonne zusammen mit der Mutter unter den Blicken der Öffentlichkeit im Linienbus zur Tagesstätte zu fahren — die Mutter wie ein Panther auf der Lauer dabei. Als dort eine andere geistig Behinderte Yvonne mit den Worten empfing: „Was für ein schönes Kind“ und die Mutter stolz dahinschmolz, hatte Meyer ein 30 Jahre lang verschlossenes Ziel erreicht: Frau Hauenstein überließ Yvonne den Therapeuten.

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