■ Baker Street 221B – die berühmteste Adresse der Welt: Sherlock Holmes lebt hier nicht mehr
London (taz) – Es sind exakt 17 Stufen – genau wie Arthur Conan Doyle behauptet hat. Am Ende der schmalen Treppe gehen von dem kleinen Flur zwei Türen ab. Geradezu liegt das Wohnzimmer, das mit allen möglichen Utensilien vollgestopft ist: ein roter Diwan rechts an der Wand, daneben ein gedeckter Eßtisch; in der Ecke ein kleiner, runder Tisch, auf dem verschiedene Chemikalien in Glasfläschchen abgestellt sind. Auf dem Schreibtisch an der Wand neben der Tür liegen Bücher, eine Mütze, eine Pfeife und ein geöffneter Arztkoffer. Durch die beiden großen Fenster gegenüber blickt man auf die Baker Street in London.
Auch das hatte Conan Doyle beschrieben: „Wie verabredet trafen wir uns am nächsten Tag und sahen uns die Wohnung in Baker Street 221 B an, von der er bei unserem Treffen gesprochen hatte“, heißt es in seiner „Studie in Scharlachrot“. „Sie bestand aus zwei bequemen Schlafzimmern und einem großen, luftigen Wohnzimmer, das hübsch möbliert und durch zwei große Fenster hell und licht wirkte. Die Wohnung gefiel uns gut. Die Kosten, wenn wir sie teilten, waren so niedrig, daß der Handel an Ort und Stelle abgemacht wurde und wir beschlossen, sofort einzuziehen [...] und wir begannen, uns in unserer neuen Umgebung wohl zu fühlen.“
Das war 1881. 25 Jahre lang wohnte der berühmte Detektiv mit seinem Freund Doktor Watson in der Mietpension von Mrs. Hudson. Heute ist in dem georgianischen Haus aus dem Jahr 1815, das von der britischen Regierung als „Gebäude von besonderem architektonischem und historischem Interesse“ eingestuft wurde, ein Museum eingerichtet. Holmes' Schlafzimmer, das vom Wohnzimmer abgeht, zeugt von dem furchtbaren Geschmack und den schlechten Angewohnheiten des Meisterdetektivs, über die sich Watson oft geärgert hat: An der grüntapezierten Wand hängen 14 Fotos von Massenmördern, die Pantoffeln vor dem Bett sind voller Tabakreste, und im Butternapf ist eine Zigarre ausgedrückt.
Watsons Schlafzimmer liegt einen Stock höher. Dort kann man in zeitgenössischen Büchern und Zeitungen blättern oder eine Nachricht mit einer Reißzwecke an die Pinnwand heften. Einige BesucherInnen haben ein Foto von sich mit der Bitte um Brieffreundschaften hinterlassen. Auf dem Schreibtisch ist ein Schachspiel aufgebaut, daneben liegen verschiedene Tabakpfeifen.
Im Nachbarzimmer, das nach vorne zur Baker Street hinausgeht, lebte laut Conan Doyle die Vermieterin, Frau Hudson. Heute steht eine lebensgroße Bronzestatue von Sherlock Holmes in der Ecke, und auf einem großen Tisch sind die Korrespondenz des Detektivs sowie alle möglichen Beweisstücke von Holmes' abenteuerlichen Fällen versammelt, die Conan Doyle in 60 Büchern beschrieben hat: ein Hochzeitskuchen, eine rote Perücke, ein Dolch, ein Ohr, eine Handvoll Perlen und ein gräßlicher Voodoo-Fetisch.
Im dritten Stockwerk ist der Souvenirladen untergebracht. Hier kann man Ansichtskarten, Bücher, Poster oder Nachbildungen des U-Bahn-Schildes der Station Baker Street kaufen. Die Kacheln an der Bahnsteig wand des nahe gelegenen U-Bahnhofs zeigen die Silhouette des Detektivs – mit der Pfeife im Mund und dem unvermeidlichen Jagdhut auf dem Kopf. Wer vom Bahnhof kommt und die Hausnummer 221B sucht, findet jedoch nicht das georgianische Museumsgebäude, sondern das moderne Bürohaus der Abbey-National-Bausparkasse. Es hat die Nummern 215-229, und das schließt auch 221B ein – sehr zum Verdruß von Grace Riley, der Direktorin des Sherlock-Holmes- Museums, das postalisch die Hausnummer 239 trägt. Über der Tür des Museums prangt freilich die Nummer 221B – die berühmteste Adresse der Welt, wie Riley meint. Seit das Museum vor fünf Jahren eröffnet wurde, versucht sie, den Stadtrat von Westminster zu einer offiziellen Änderung der Hausnummern zu bewegen – bisher vergeblich: Briefträger, Feuerwehr und Krankenwagen würden dadurch verwirrt, lautet die Begründung. „Die Hausnummern wurden in den dreißiger Jahren neu vergeben“, sagt Riley, „es kann also durchaus sein, daß dieses Haus früher die Nummer 221B trug. Die Leute bei Abbey National bilden sich ein, sie hätten ein gottgegebenes Recht auf die Hausnummer.“
Die Bausparkasse hat einen Pressesprecher eingestellt, der als „Privatsekretär von Sherlock Holmes“ die Fanpost an den Meisterdetektiv beantwortet. „Der Job ist nicht schlecht“, sagt Gug Kyriacou, „aber das ist natürlich nur ein Teil meiner Arbeit. Wir bekommen etwa 30 bis 40 Briefe jede Woche.“ Der größte Teil der Post kommt aus Japan und den USA – meist von Kindern und Jugendlichen bis 15, die Arthur Conan Doyles Bücher in der Schule gelesen haben. „Sie wollen vor allem persönliche Dinge wissen“, sagt Kyriacou, „sie fragen Holmes nach seiner Lieblingsfarbe, seinem Lieblingssport oder wollen wissen, warum er keine Freundin hat. Manche bitten ihn um Hilfe, weil der Hund oder die Katze entlaufen ist.“ Kyriacou beantwortet jeden Brief: Er schreibt, Holmes habe sich zur Ruhe gesetzt und züchte Bienen in Suffolk.
„Bei dem Gedanken, daß ein Haufen von Geldverleihern seine Post beantwortet, würde sich Sherlock Holmes im Grabe umdrehen, wenn er tatsächlich existiert hätte“, sagt Grace Riley. „Mit solchen Leuten hätte er nicht mal seinen Lunch eingenommen.“ Noch hat die resolute 50jährige einen Trumpf im Ärmel: Nigel Griffiths, der Unterhausabgeordnete aus Conan Doyles Heimatstadt Edinburgh, will sich der Sache annehmen und den Fall im Parlament zur Sprache bringen. „Sherlock Holmes ist in der ganzen Welt bekannt“, sagt Griffiths, „aber wenn die Leute nach London kommen und dieses andere Gebäude unter der Adresse vorfinden, sind sie enttäuscht.“ Eine Änderung der Hausnummern käme deshalb dem Tourismus zugute, meint er.
Conan Doyles Tochter Jean ist anderer Ansicht. „Mein Vater hatte nie etwas übrig für Leute, die nicht glauben wollten, daß Sherlock Holmes eine fiktive Figur war“, sagt sie. „Er hat stets betont, daß dieses Wohnhaus nie existiert habe. Unbedarfte Besucher könnten zu der Annahme verleitet werden, daß Sherlock Holmes tatsächlich unter dieser Adresse gelebt hat, wenn die Hausnummer offiziell geändert würde.“
Grace Riley läßt sich dadurch nicht beirren. „Man weiß mit Sicherheit, daß Conan Doyle in dieser Straße oft Freunde besucht hat“, sagt sie. „Es ist doch kaum ein Zufall, daß so viele Details in seinen Büchern mit diesem Haus übereinstimmen.“ Im Grundbuch war das Haus von 1860 bis 1934 als Mietpension eingetragen. Im obersten Stockwerk, wo Grace Riley Souvenirs verkauft, haben früher die Hausmädchen gewohnt. Heute sitzen die beiden in viktorianischer Tracht vor dem Kamin im Wohnzimmer im ersten Stock. Sie unterhalten sich leise über eine Mordserie – keine raffinierten Taten wie bei Conan Doyle, sondern ein Blutbad mit automatischen Waffen: Es geht um Oliver Stones Film „Natural Born Killers“, den die beiden am Abend zuvor im Kino gesehen hatten. Sherlock Holmes würde sich im Grabe umdrehen. Ralf Sotscheck
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