Bahn-Protest in Italien: "Mal sehen, was Kretschmann macht"
Alberto Perino über die Protestbewegung gegen die Hochgeschwindigkeitstrasse im norditalienischen Susatal und die Parallelen zu Stuttgart 21.
taz: Herr Perino, wie ist die aktuelle Lage im Susatal?
Alberto Perino: Sehr angespannt. Seit dem 27. Juni wimmelt es hier - wo das Bauvorhaben des Tunnels für die Hochgeschwindigkeitszüge zwischen Turin und Lyon (TAV) beginnen soll - von Polizei, es sind Tausende, auch Spezialkräfte. Unsere Demonstrationen wurden mit Knüppeln und Tränengas aufgelöst, man hat das Gebiet besetzt. Vorgestern gab es gegen dieses quasi militärische Vorgehen einen Fackelzug, an dem mehr als 15.000 Bürger teilgenommen haben. Und am Sonntag werden wir eine neue Aktion auf dem Colle della Maddalena - wo die Polizei steht - durchführen. Wir werden sie belagern!
Wann und wie ist die Bewegung NO TAV entstanden? Was sind die Gründe für die Proteste?
Die Bewegung NO TAV existiert seit 22 Jahren, als Italien und Frankreich begannen, eine neue Strecke für Hochgeschwindigkeitszüge durch das Valsusa zu planen. Wir sind aus drei Gründen gegen dieses Projekt: Durch das Tal laufen bereits jetzt zwei Staatsstraßen, eine Autobahn und eine Bahnlinie. Die Bahnlinie wurde 2011 modernisiert, ist aber nur zu 30 Prozent ausgelastet - eine neue wäre also nutzlos.
Zweitens ist der Bau zu teuer. Die EU hat allein 650 Millionen bereitgestellt für die Voruntersuchungen, aber niemand weiß, wie viel das Projekt am Ende wirklich kosten wird. Drittens wäre die Umweltbelastung verheerend. Eine Kommission des EU-Parlaments hat festgestellt, dass beim Tunnelbau ein starkes Risiko der Instabilität durch Wasser besteht. Und die Berge ringsum enthalten Uran und Asbest. Der Staub, den die Bauarbeiten verursachen, wird sich im ganzen Tal verteilen. Und nicht zuletzt wissen alle: An Großprojekten wie hier verdienen in Italien vor allem Politiker - und die Mafia.
ALBERTO PERINO, 65, Bankvizedirektor in Rente, ist Sprecher der Bewegung NO TAV, die seit mehr als zwei Jahrzehnten gegen den Bau der Hochgeschwindigkeitstrasse durch das piemontesische Susatal kämpft.
Wie argumentieren die TAV-Befürworter?
Die Regierung sagt immer dasselbe: TAV sei unentbehrlich. Wenn es nicht gebaut werde, sei Italien vom Rest Europas abgeschnitten. Aber das ist falsch: Wie schon gesagt, gibt es bereits viele Verbindungswege zwischen Italien und Frankreich durch das Susatal.
Wer sind die Aktivisten bei NO TAV?
Schlicht die Bewohner des Tals, vom Baby bis zum Rentner, die seit 22 Jahren gegen dieses Bahnprojekt streiten. Vor drei Jahren haben wir eine Unterschriftenaktion durchgeführt: Von zirka 50.000 Bewohnern des Tals haben 32.000 unterschrieben. Es gibt keine Chefs und keine Politiker bei uns. Ich bin nur der NO-TAV-"Opa" und rede mit der Presse, weil ich mich noch nicht ganz von der Idee verabschiedet habe, dass fair über uns berichtet wird.
Und was ist mit den Autonomen?
Wir als Bewegung schließen keinen aus. Die Gewalt geht von der Polizei aus. Aber die werden sich noch wundern, wenn sie mit ihren Helmen und Schutzwesten in der brüllenden Hitze aushalten müssen!
Seit den Regionalwahlen 2010 regiert die Lega Nord im Piemont. Welches Verhältnis besteht zur Lega?
Die Lega Nord war gegen TAV, bis sie 1995 in die Regierung im ersten Kabinett Berlusconis eintrat. Dann haben die Führer der Lega sofort ihre Meinung geändert und die Vertreter hier vor Ort, die gegen das Projekt waren, aus der Partei geworfen. Aber die Wähler der Lega demonstrieren mit uns weiter dagegen. Und sie sagen jetzt, dass sie diese Partei nicht noch mal wählen werden.
Weil der gewaltige Polizeieinsatz vom italienischen Innenminister und Kronprinzen der Lega, Roberto Maroni, angeordnet wurde?
Im Jahr 2005, als es schlimme Straßenschlachten in Venaus - einem anderen Ort im Tal - gab, meinte Maroni, damals noch nicht Innenminister, dass man nie die Polizei schicken dürfe, um den Bau durchzuboxen. Heute macht er aber genau das - so ist das eben mit den Politikern.
Sechs Autostunden entfernt, in Stuttgart, gibt es eine Bewegung, die gegen ein anderes Bahnprojekt kämpft. Kennen Sie Stuttgart 21?
Natürlich stehen wir in Verbindung mit Stuttgart. Wir waren da einmal, und sie waren auch hier. Im Valsusa leben einige Deutsche und halten den Kontakt. Die Probleme hier und dort sind die gleichen: ein sinnloses, Schaden bringendes und untragbares Projekt, das die Bürger nicht wollen. Unser Zielpunkt ist auch der gleiche: Wir fordern das Recht der Bürger ein, über ihr eigenes Schicksal und ihre eigene Zukunft selbst zu entscheiden.
Aber in Stuttgart gibt es einen Ministerpräsident von den Grünen …
Warten wir ab, was Herr Kretschmann macht. Ich traue den Politikern nicht: Wenn sie erst auf ihrem Posten sitzen, dann bleiben sie da, koste es, was es wolle. So läuft es jedenfalls hier in Italien.
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