BUNSENBRENNER: Vincents Ohr
■ Wie sich der "Deutsche Ärztekongreß" in van Gogh und seine Bilder einfühlt
Mit den Worten „Heben Sie diesen Gegenstand sorgfältig auf“ überreichte ein gewisser Vincent van Gogh dem Freudenmädchen Rachel am 30. Dezember 1888 einen blutigen Gegenstand. Und verschwand. Van Gogh hatte sich einen Teil seines Ohres abgeschnitten. Mit dieser gewalttätigen Geste ist er in einen Mythos eingetreten. Ich bin dem Mythos und der Faszination seiner Bilder erlegen.
Um Ihnen dies in meiner Festrede anläßlich des „Deutschen Ärztekongresses“ in Berlin darzulegen, möchte ich einige Bilder zeigen: [Gelber Stuhl, Arles, Dez. 1988-Jan. 89.] Van Goghs Bilder sind die teuersten auf jeder Auktion. [Schwertlilien, Saint Remy, Mai 1889.] Wenn er auch selbst in Schwermut gelebt hat, so waren seine Schöpfungen doch wundervoll und fast bis zuletzt beglückend. [Sonnenblumen, Arles, Aug. 1888.] In Schwermut gelebt: Hier sehen Sie nur einige psychiatrische Diagnosen, die ihm von der ärztlichen und der psychoanalytischen Nachwelt zugedacht wurden. In Betracht kommt aber meiner Ansicht nach auch Absinthismus, eine typische Drogensucht (vgl. Alkohol) des 19. Jahrhunderts. Kürzlich war in den Gazetten auch von Morbus Meniere die Rede. Akute Manie, Gonorrhoe, Syphilis, Harnröhrenstrikturen, Skorbut (Vitamin C-Mangel), Ulcus duodeni oder ventriculi (vgl. Nüchternheitsschmerz) kommen außerdem zu verschiedenen Lebenszeiten in Betracht. [Selbstbildnis mit grünem Filzhut, Paris 1887.] Durch Trunk- und Drogensucht, unentwegtes Tabakrauchen sowie ein sexuell ausschweifendes Leben gelangte van Gogh auf einen Tiefpunkt. Trotzdem malte er unermüdlich.
[Verblühte Sonnenblumen, Paris 1887]. Er malte nicht, um Werke für die Nachwelt zu schaffen. Er arbeitete, um sich von seinen inneren Zwängen zu befreien. Man schickte van Gogh nach Arles, um sich zu erholen. Dort bereitete Vincent 1888 die Ankunft seines Freundes Gauguin vor: Er behängte das Zimmer mit lauter Bildern von Sonnenblumen. Sie sind alle schreiend gelb und strotzen vor Sonnenlicht. Um den hellen Farbton zu erreichen, mußte er sich aufputschen mit unzähligen Tassen starkem schwarzen Kaffee. [Caféterrasse bei Nacht. Arles, Sep. 1888.] In der Nacht vor Gauguins Abreise geht van Gogh mit dem Rasiermesser auf den Freund los, hält ein und schneidet sich selbst das Ohrläppchen ab. Die Bürger bezeichneten ihn als Menschenfresser. Man sperrte ihn, nachdem er eine Flasche Terpentin ausgetrunken hatte, in die psychiatrische Klinik Saint Remy. Im Mai 1889 schuf er hier die berühmten Schwertlilien. [Schwertlilien, Saint Remy, 1889.] Trotz seiner Arbeit konnte sich van Gogh mit dem Leben in einer Heilanstalt nicht identifizieren. [...] Zitate-Montage von mis nach dem Referat von Prof. Dr. med. habil. Wolfgang Hach.
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