: BRD-Norden: Armut kommt gut
Unternehmer-Symposion: Nordkapital versucht, sich aus Imagesumpf zu ziehen / Aber: Hafenstraße muß weg, sonst wird nicht investiert / Industriellentreffen fordert: Atomstrom satt, Löhne runter ■ Aus Hamburg Florian Marten
Jedes Jahr spucken die Statistiken es deutlicher aus: Norddeutschland, die vier „Küstenländer“ Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, sind auf dem absteigenden Ast. Am härtesten traf der Niedergang Hamburg und Bremen. Hamburg, noch vor 15 Jahren nach fast allen Kriterien (Millionärsdichte, Beschäftigung, Lohnniveau, Sozialprodukt...) Europas reichste Metropolregion, glänzt heute mit der zweithöchsten Arbeitslosigkeit der BRD (13,6 Prozent), hat vom Kohlschen sogenannten „Aufschwung“ praktisch überhaupt nichts mitbekommen.
Seit einigen Jahren macht deshalb bundesweit das Stichwort vom „Süd-Nord-Gefälle“ die Runde, nicht nur in kapitalen Kreisen. Norddeutschlands Unternehmerschaft freundete sich recht bald mit dem Begriff an, um die Landespolitiker drohend an politische Gefälligkeiten und Sonder-Bonbons zu erinnern. Doch urplötzlich begann der Begriff zu nerven. Als blendend verdienender Nord-Unternehmer auf fast jeder Messe von Südkollegen auf das Armenhaus Norddeutschland angesprochen zu werden - das gefiel immer weniger.
Mit einer Mammutveranstaltung in Hamburg versuchte sich das Nordkapital in einer aufsehenerregenden „Selbsthilfeaktion“ (BDI-Chef Tyll Necker) aus dem Image-Sumpf zu ziehen. Alle drei deutschen Unternehmerverbände (BDI, BDA, DIHT) riefen, Hamburgs Wirtschaft sponsorte komplett, Kanzler Kohl ließ sich als Gaststar verpflichten, und fast alle kamen: Nur wenige Steinwürfe von Hamburgs derzeit heiß umkämpftem Schanzenviertel trafen sich am Mittwoch, von Demonstranten völlig unbehelligt, 1.300 Unternehmer, Kapitalfunktionäre und Politiker zum Unternehmenssymposion Zukunftsstandort Küste. Nach vorsichtigen Schätzungen waren rund 40 Prozent des gesamten westdeutschen Privatkapitals vertreten.
Mit einer Studie hatte die Hamburger Handelskammer die teuren Gäste auf die zentrale Message eingeschworen: Bei uns ist gut investieren. Denn: Erstmals sind die Löhne im Norden unters bayerische Niveau gesackt. An unsere Arbeitslosenzahlen kommt niemand 'ran. Unsere Arbeitslosen sind ausbildungsmäßig allererste Sahne. Und vor allem Jugendliche gibts bei uns zuhauf. Büromieten, Gewerbeflächen und Wohnvillen gibts echt günstig. Kurz: Der goldene Ruf der Armut. Aber auch golfplatz- und sportflugplatzmäßig brauche sich der Norden nicht zu verstecken.
Für Spitzencracks wie den IBM-Deutschland-Chef Hans-Olaf Henkel war vieles an dieser Botschaft neu und interressant: Genial: Jawoll, das Süd-Nord-Gefälle gibts! Und deshalb lohnt es sich im Norden.
Auch gewaltige Zukunftschancen wurden ausgemacht. Die wirtschaftsmäßige Einverleibung Nordeuropas, wenn die Ostsee erst überbrückt und/oder untertunnelt ist (Scan-Link), der baggermäßige Ausbau der Elbe zum „Ost-West-Rhein“.
Bei all dem Glück und lockenden Gold störte nur wenig. Bundeskanzler Helmut Kohl schloß sich den Empfehlungen vieler Redner an, bei den Tarifverhandlungen doch endlich einmal die hohe Arbeitslosigkeit ins Kalkül zu ziehen. Im Klartext: Löhne tendenziell runter. Das Atomausstiegsgerede in Hamburg und Kiel wird - das machte die Tagung klar - in Unternehmerkreisen nicht sehr ernst genommen. Aber abgestellt haben will man das Gerede doch. Wie überhaupt, so eine zentrale Botschaft des Meetings, sich der Unternehmer viel öffentlicher und direkter in die Politik einmischen soll. Der Unternehmer solle den Weg weisen, der Politiker als Service-Unternehmer die kapitale Fahrt erleichtern. Hamburgs Jung-Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) versprach denn auch, dauerhaft für „wettbewerbsfähige Energiepreise“ zu sorgen. Die Zukunft von Spaß und Fun sieht das Kapital gut bei sich aufgehoben: Kunstsponsoring, Freizeitindustrie, Kapitalisierung der Erholung lauten die Ziele.
Für Überraschung bei vielen Beobachtern des Spektakels sorgte die Vehemenz, mit der sich das „große Geld“ über die Hamburger Hafenstraße aufregte. Als BDI-Chef Becker gleich zu Beginn anmahnte, Hamburg dürfe den Hafen als städtisches Symbol nicht „mit der Hafenstraße zum Synonym für Chaos verkommen lassen“, tobte der Kongreß beifallklatschend wie sonst nie an diesem Tag. Daimler-Vize Niefer warnte gar vor Investitionsstreiks des Südkapitals wg. Hafenstraße und die Hamburger Handelskammer und die Firma Beiersdorf (Tesa, Nivea) forderten den Hamburger Senat auf, endlich Konsequenzen zu ziehen. Das Investitionsklima könne die Hafenstraße nicht verkraften. Welcher Unternehmer wolle schon dahin, wo der Staat sich so vorführen lasse.
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