BOOMENDE BRANCHE AUF BERLINS FRIEDHÖFEN: BEOBACHTUNGEN BEI DEN WITWENTRÖSTERN : Die Nähe des Todes
VON HELMUT HÖGE
Bei den Witwentröstern unterscheiden Beerdigungsredner zwischen „weißen“ und „schwarzen“: Erstere wollen wirklich trösten, Letztere sind auf echte Werte, also Geld, aus.
Aber manchmal kann man sie auch nicht so genau trennen. Da gibt es zum Beispiel die Gruftis, die sich nicht nur gerne auf Friedhöfen rumtreiben, sondern dort, wenn sie schon mal da sind, gelegentlich Beerdigungen besuchen. Ihr Interesse sind das Trauerritual und die Nähe des Todes. Daneben gibt es aber auch solche, die das Leben, genauer gesagt: der Hunger, dort hintreibt – die Hoffnung auf den Leichenschmaus, wenn sie sich nur überzeugend genug als „Freund“ des oder der Verstorbenen ausgeben.
Auch sogenannte Winter-Witwentröster finden sich auf den Berliner Friedhöfen: Männer, die sich sommers in den meist ländlichen Reha-Orten als Kurschatten durchschlagen und sich nur in der kalten Jahreszeit auf Friedhöfen rumtreiben.
Und dann gibt es auch solche wie den jungen Achmed, der früher mal Friedhofsgärtner war und die Stille auf den Friedhöfen liebt. Einmal lernte er dort meine unter mir wohnende alte Mieterin kennen, die das Grab ihres Mannes pflegen wollte, aber keinen Wasserhahn für ihre Blumen fand. Achmed half ihr. Seit dem Tod ihres Mannes lebte sie sehr zurückgezogen, aber nachdem sie Achmed kennengelernt und sich quasi sofort mit ihm verheiratet hatte, fühle sie sich „wie neu geboren“ – wie sie mir gestand, als wir uns beim Getrenntmüllruntertragen auf der Treppe begegneten. „Ob er es ehrlich mit mir meint, wird sich herausstellen“, fügte sie schmunzelnd hinzu.
Seit einigen Jahren muss ich dauernd zu Beerdigungen von Freunden, wo ich immer wieder dieselben Leute treffe. Eine Bekannte, Gisela, meinte neulich schon: „Ich komm gar nicht mehr runter von den Friedhöfen.“ Mir hat sich dabei immerhin das Auge für Witwentröster geschärft: Jetzt, da das alte Ost- und Westberlin zügig wegstirbt, scheint diese Branche zu boomen. Vor allem im Frühjahr. Überall sehe ich Männer, die fremden Frauen ihre Gießkannen oder irgendwelche Blümchen hinterhertragen, sich, am Grab angekommen, diskret zurückziehen und dann mit diesen Witwen ins nächste Café gehen. Eine Freundin von mir will demnächst an einem der Kreuzberger Friedhöfe sogar ein Café eröffnen. Sie meint, das wäre ein bombensicheres Geschäft.
Auf dem Tierfriedhof des Tierheims in Hohenschönhausen lernte ich beim letzten Besuch eine Witwe kennen, die dort ihren 2011 eingeschläferten Hund beerdigt hatte. Sie erzählte, dass sie viele „ältere verwitwete Damen“ kenne, die ebenfalls das Grab eines tierischen Angehörigen pflegen. Mit der ein oder anderen Dame gehe sie auch schon mal anschließend ins Café des Tierheims. Auf die Witwentröster angesprochen, winkte sie jedoch ab: „Ach, die Männer!“ Das seien doch fast alle „windige Gesellen“, die einem auf den Friedhöfen schöne Augen machen. „Pietätlos“ sei das.
Sie gab jedoch zu, dass es dieses Phänomen gibt, was sie sich damit erklärte, dass auf dem Friedhof, nahe dem Grab eines geliebten Verstorbenen, das Herz und die Seele besonders empfänglich seien für Zuspruch und Anrede. Auf dem Hohenschönhauser Tierfriedhof sei man jedoch relativ sicher vor ihnen: „Der ist zu weit draußen für diese Lümmel, wissen Sie?!“