BERNHARD GESSLER STETHOSKOP : Wer heilt, hat recht
Im Anfang war das Wort: „ganzheitliche Therapie“. Schon als Medizinstudent habe ich diesen Begriff als Provokation empfunden. Was fällt den Alternativmedizinern eigentlich ein, so dachte ich oft. Provokativ ist, was den schulmedizinisch orientierten Ärzten damit unterstellt wird.
Lassen Sie es mich ganz klar ausdrücken. Der Vorwurf, den der Begriff impliziert, lautet doch: Schulmediziner sind zu blöde oder zu borniert, um die Ganzheit ihrer Patienten zu sehen! Sie sind so sehr auf ihr Fachgebiet beschränkt, dass es ihnen nicht gelingen kann, ihre Patienten als ganze Menschen mit Körper, Geist und Seele in ihrem sozialen Kontext zu erkennen und zu behandeln!
Okay, es gibt jede Menge Fachidioten unter den Ärzten. Diese Feststellung gilt aber für alle Heilberufe und Mediziner, auch für den alternativmedizinischen Zweig. Anmaßend ist es, diese Ignoranz nur einem System im Spektrum des Gesundheitswesens zu unterstellen: der naturwissenschaftlichen Schulmedizin.
„Ganzheitlich“ ist im Wettbewerb der Werbe- und Kampfbegriffe des Gesundheitsmarktes übrigens nur die Nummer zwei. „Entschlackung“ bringt bei einer Google-Recherche 280.000 Treffer – und war auch schon immer mein Lieblingsbegriff. Die Vorstellung, dass sich in unserem Körper „Schlacken“ bilden, die ab- und ausgeschieden werden müssen, ist so herrlich retro, industriell und mechanistisch. Der eigene Körper als Fabrik, als Hochofen – welch schillerndes Bild, das eigentlich so gar nicht in den Kontext vieler naturromantischer Alternativmedizinen passt.
Modernere Therapieangebote formulieren da geschickter: Entgiftung, Ab- und Ausleitung, Symbioselenkung, dazu die Adjektive integrativ, holistisch, energetisch. Das klingt jetzt alles furchtbar aggressiv, einseitig und ausgrenzend. Doch seit meinen Studientagen habe ich auch diesen Leitspruch: Wer heilt, hat recht. Das heißt: Auch wenn ich viele alternative Heilmethoden für theoretisch abwegig, gar für absurd und bizarr halte – unzähligen Menschen haben sie geholfen. Das zählt.
Ein weiteres Argument für die Existenzberechtigung alternativer Heilmethoden: Sie fordern in einer Art Systemkonkurrenz die Schulmedizin heraus, decken ihre Defizite auf und bedienen das große Bedürfnis nach Wärme, Individualität, Sinn und Mystik während des Heilungsprozesses. Ich habe lange genug in großen Krankenhäusern und auf Intensivstationen gearbeitet, um die kalte Rationalität und Hybris der Hochleistungsmedizin kennenzulernen. Doch auch in diesem System arbeiten ganzheitlich denkende und fühlende Menschen für ihre kranken Mitmenschen. Das ist Realität, Anspruch und Hoffnung.
■ Der Autor ist Internist in Karlsruhe Foto: privat